James Bain hatte angeblich einen Jungen vergewaltigt, wurde trotz Alibi verurteilt – und saß 35 Jahre lang unschuldig in einem US-Knast. Jetzt ist er frei. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der 54-Jährige über seine Zeit hinter Gittern und seine Probleme, sich in der Freiheit zurechtzufinden.
Die Polizisten kommen am 23. März 1974, sie nehmen ihn mit auf die Wache, sie stellen Fragen. James Bain, 19, aus Tampa im US-Bundesstaat Florida, ahnt nichts Böses. Er hat ja nichts getan. Was ihm vorgeworfen wird, erfährt er erst Tage später: Bain soll einen neunjährigen Jungen entführt und vergewaltigt haben. Er hat ein Alibi, doch das nützt ihm nichts. Das Gericht verurteilt ihn aufgrund der Aussage des Opfers zu lebenslanger Haft. Zusatz: Vorzeitige Entlassung ist erst nach 25 Jahren möglich.
Doch auch nach einem Vierteljahrhundert ist von einer Freilassung nicht die Rede. Erst als ein neues Gesetz 2001 die Untersuchung alter Kriminalfälle mit DNA-Tests erlaubt, gibt es Hoffnung für Bain. Die Unterhose des Opfers wurde aufbewahrt, doch die ersten vier Anträge von Bain auf einen Test werden abgelehnt. Er bekommt schließlich Hilfe von der US-Organisation Innocence Project, die sich um die Aufklärung von Justizirrtümern bemüht. Sie haben mit dem fünften Antrag Erfolg. Der DNA-Test beweist: James ist unschuldig. Am 17. Dezember darf er das Gefängnis verlassen. Der Richter sagt: “Sie sind ein freier Mann. Gratulation.”
Nun sitzt Bain in einem Hamburger Hotel an der Außenalster. Zum ersten Mal hat er die USA verlassen. Seine Haare sind grau, die Augen müde. “Ich möchte Leuten mit meiner Geschichte Hoffnung geben”, sagt der 54-Jährige. Dann beginnt er zu erzählen.
SPIEGEL ONLINE: James Bain, Sie waren 35 Jahre lang unschuldig eingesperrt. Wie haben Sie es geschafft, nicht durchzudrehen?
Bain: Ich habe an meine Familie gedacht, an Gott und auch an meine Freunde, die ich im Gefängnis kennengelernt habe. Das waren die drei wichtigsten Stützen. Sie haben mich am Leben gehalten.
SPIEGEL ONLINE: Als Sie fälschlicherweise verurteilt wurden, waren Sie gerade 19 Jahre alt. Wie erging es Ihnen als Teenager unter Schwerkriminellen?
Bain: Anfangs dachte ich, ich müsste vielleicht sterben. Oder selbst jemanden töten. Ich habe zwar versucht, mich von Ärger fernzuhalten. Aber das gelang nicht immer. Ich war oft in Prügeleien verwickelt.
SPIEGEL ONLNE: Sie hatten keine Erfahrung mit solchen Auseinandersetzungen. Wie konnten Sie sich behaupten?
Bain: Ich habe im Gefängnis gelernt, mich zu verteidigen. Das muss man auch, mehr als alles andere. Wenn es Ärger gab, wusste ich damit umzugehen. Und mit den Jahren wurde es immer besser. Je länger man im Gefängnis sitzt, umso weniger Probleme hat man. Ich war am Ende ein echter Veteran.
SPIEGEL ONLINE: Hatten Sie noch Hoffnung freizukommen?
Bain: Nein, als die Jahre vergingen, dachte ich: Du kommst hier nicht mehr raus. Du wirst im Knast sterben.
SPIEGEL ONLINE: Wie gingen Sie damit um?
Bain: Ich habe versucht, es zu akzeptieren und das Beste daraus zu machen, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahr. Natürlich sucht man nach Antworten, abends, wenn man im Bett liegt. “Warum bin ich hier?” Das habe ich mich oft gefragt, bevor mir die Augen zufielen.
SPIEGEL ONLINE: Im Dezember kamen sie endlich frei. Was haben Sie nach der Entlassung als erstes getan?
Bain: Ich habe meine Mutter angerufen. Man gab mir ein Handy. Es war das erste Mal, dass ich so ein Ding in der Hand hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie es funktioniert, und hielt es zunächst verkehrt herum. Noch heute schaue ich manchmal nach einem Kabel und frage mich: Wie soll ich hier draußen ohne Kabel ein Telefon benutzen?
SPIEGEL ONLINE: Als Sie eingesperrt wurden, war Richard Nixon noch Präsident der USA und Computer waren ein Ding der Zukunft. Wie finden Sie sich nun im 21. Jahrhundert zurecht?
Bain: Alles fühlt sich völlig neu an. Ich bin überwältigt von der Technologie. Die ganzen Geräte sind sehr faszinierend.
SPIEGEL ONLINE: Sie mussten sich mit 19 Jahren an das Gefängnisleben anpassen und nun mit 54 an das Leben in einer hektischen Gesellschaft. Was war die größere Herausforderung?
Bain: Ich glaube, die jetzige Situation. All die neuen Sachen! Es ist nicht so, wie ich es erwartet habe. Ich dachte, die Welt wäre langsamer. Die Menschen denken und handeln anders als früher, schneller. Im Gefängnis verpasst man so viel. Man fällt immer weiter zurück, während die Gesellschaft vorankommt. Nun muss ich versuchen aufzuholen.
SPIEGEL ONLINE: Was haben sie alles vor?
Bain: Ich will meinen Führerschein neu machen und meinen Schulabschluss, ich will meiner Mutter helfen. Sie ist 77 Jahre alt und gesundheitlich nicht mehr so gut drauf. Vor allem will ich mich auf die Zukunft vorbereiten.
SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie?
Bain: Ich muss meinen Alltag regeln können. Um ehrlich zu sein: Im Moment könnte ich noch nicht allein leben. Ich habe Leute, die mir helfen.
SPIEGEL ONLINE: Ist Ihnen Ihre Lage manchmal unangenehm?
Bain: Nein. Jeder um mich herum weiß, dass ich diese Dinge nicht kenne. Deshalb gehe ich auch in Schulen und erzähle meine Geschichte. Um den Kids zu zeigen, wie viel ich verpasst habe. Ich sage ihnen: Mit meinem Handy kann ich nur telefonieren. Aber fotografieren? Textnachrichten schreiben? Ich weiß nicht, wie das geht. Die Zehnjährigen schauen mich an, als ob ich verrückt sei.
SPIEGEL ONLINE: Fragen Sie sich auch selbst, was Sie verpasst haben?
Bain: Ich hätte gerne eine Familie gegründet. Aber diese Möglichkeit bekam ich 35 Jahre lang nicht.
SPIEGEL ONLINE: Jetzt hätten Sie die Chance.
Bain: Aber ich muss sehr vorsichtig sein. Vor allem wegen des Geldes.
SPIEGEL ONLINE: Sie sind ein reicher Mann. Die USA zahlen ihnen für jedes Jahr in Haft 50.000 Dollar Entschädigung.
Bain: Ich bekomme 1,75 Millionen Dollar. Aber kein Geld der Welt kann ersetzen, was ich verloren habe. Mit dem Geld will ich mich um meine Familie kümmern und mein Leben sichern. Das sollte möglich sein – solange ich nicht verrückt spiele und mir protzige Sachen kaufe. Aber das wird nicht passieren. Ich habe auch gute Leute im Rücken, die auf mich aufpassen.
SPIEGEL ONLINE: Werden Sie in den USA auf der Straße erkannt?
Bain: Fast überall, wo ich hingehe. Ich fühle mich beinahe wie ein Promi. Das hätte ich niemals gedacht.
SPIEGEL ONLINE: Sie behaupten, Sie seien nicht zornig. Das fällt schwer zu glauben.
Bain: Es ist aber so. Warum sollte ich auch wütend sein?
SPIEGEL ONLINE: Man hat Ihnen das halbe Leben gestohlen.
Bain: Das stimmt. Aber daran kann man nichts ändern. Es macht keinen Sinn, mich zu ärgern. Seit das geschehen ist, habe ich alles in Gottes Hand gelegt. Auch nach all den Jahren kann ich niemandem etwas vorwerfen.
Das Interview führte Hendrik Ternieden