Wie willkürlich ist die Justiz?, Quirmbach & Partner
Ein Fall aus der Erfahrung
Der krasseste Fall von Willkür, den ich in mehr als 30 Jahren anwaltlicher Tätigkeit erlebt habe, betraf eine junge Mutter. Sie wurde von einem Strafrichter zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt, weil sie bei einem Billig-Versandhaus ein Kaffeeservice für damals 12,90 DM bestellt hatte. Ihr Ehemann hat unter dem Einfluss von Alkohol in einem Wutanfall alle Tassen an der Wand zerschmettert; danach zeigte er Reue und erklärte sich damit einverstanden, dass seine Frau neues Geschirr bestellt. Davon wollte er später jedoch nichts mehr wissen, denn als die Lieferung kam, war er bereits ausgezogen, entzog seiner Frau die zugesagte finanzielle Unterstützung und deshalb konnte sie die Lieferung nicht bezahlen.
Natürlich hätte für jedermann erkennbar bei dieser Situation ein Freispruch erfolgen müssen. Zur Verurteilung kam es nur deshalb, weil die junge Frau sich dem Richter gegenüber nicht unterwürfig genug gezeigt hatte, sich vielmehr erlaubte, dem Richter zu widersprechen. Er fühlte sich in seiner Ehre gekränkt. Die Tatsache, dass er bei der bekannten finanziellen Situation eine Geldstrafe verhängte, hätte zweifellos zu einer späteren Inhaftierung der Mandantin geführt, weil sie, auch für den Richter erkennbar, diese Geldstrafe überhaupt nicht zahlen konnte und damit eine Ersatzfreiheitsstrafe drohte.
In der zweiten Instanz wurde das Urteil ohne jegliche Diskussion aufgehoben.
…Prof. Dr. Gerd Seidel, Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, hat 2002 postuliert, dass in der heutigen Zeit die wirklichen Gefahren der richterlichen Unabhängigkeit von der Rechtsprechung selbst ausgehen. Durch offensichtlich grob unverhältnismäßige und völlig unplausible Entscheidungen und Eskapaden im persönlichen Verhalten einzelner Richter werde die gesamte Richterschaft und oft auch der Rechtsstaat in Misskredit gebracht. Als Abhilfe schlug er vor, die bisherigen Beurteilungen durch den Dienstvorgesetzten durch zweijährlich stattfindende Bewertungen durch Kommissionen, die mit Richtern des gleichen Gerichts und des übergeordneten Rechtsmittelgerichts besetzt sein sollen, zu ersetzen.
…Mir sind in meiner mehr als 30jährigen Tätigkeit als Anwalt viele unfähige und auch viele arbeitsscheue Richter begegnet. Wobei ich gleich anschließen möchte, dass dies zum Glück die Ausnahme ist. Dennoch, so meine ich, muss die Justiz und die dahinter stehende Regierung durch gezielte und konkrete Maßnahmen dafür sorgen, dass richterliche Freiheit so verstanden wird, wie sie gemeint ist, und nicht dem Vorteil einzelner dienen kann. Nach meiner Wahrnehmung findet eine wirkliche Kontrolle oder Überwachung nicht statt. Und wenn Richter Richter überwachen sollen, wundert es kaum, dass diese Überwachung nicht sehr effektiv, also mehr Schein als Sein ist.