Fall Genditzki: Ein allzu später Sieg der Gerechtigkeit, sueddeutsche.de, 22.08.2022
Ein Mann wird trotz Zweifeln wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt – und kommt nach 13 Jahren frei. SZ-Leser üben Justizkritik.
“Man darf nie aufhören zu kämpfen” vom 13./14./15. August und “Im Zweifel gegen den Angeklagten” vom 18. August:
…Ein Wunder und viele Fragen:
Nach dreizehneinhalb Jahren wird ein Mann aus lebenslanger Haft entlassen, weil “kein dringender Tatverdacht besteht”. Das Landgericht München II hat Manfred Genditzki zweimal aufgrund unbewiesener Vermutungen als Mörder verurteilt, der Bundesgerichtshof hat einen mehr als 100 Seiten umfassenden Revisionsantrag zu diesen Urteilen pauschal verworfen, mit einer Begründung von acht Zeilen Länge. Wie kann so etwas geschehen? Wie können so viele Richterinnen und Richter sich so hartnäckig über alle Zweifel hinwegsetzen, die in diesem Fall nicht nur von der Verteidigung, sondern auch in der Süddeutschen Zeitung ebenso wie im Stern, im Spiegel und in vielen weiteren Medien ausführlich vorgebracht wurden?
Die jetzige Freilassung Genditzkis ist fast ein Wunder. Zwei Menschen haben ein ganz besonderes Verdienst daran: Der Journalist Hans Holzhaider, der in der SZ über mehr als zehn Jahre wieder und wieder auf die Ungereimtheiten des Falles hingewiesen hat, und die Anwältin Regina Rick, die in nahezu alleiniger Arbeit den Wiederaufnahmeantrag geschrieben hat. Ich empfinde große Hochachtung für beide. Fairerweise muss ich diese aber auch der Strafkammer am Landgericht München I aussprechen, die den Mut hatte, diese Freilassung anzuordnen.
Die Urteile wurde im Namen des Volkes gefällt, in unser aller Namen. Aber mehr als zehn Jahre lang hat keine staatliche Stelle in diesem Land sich dafür zuständig gefühlt, dem wohlbegründeten und vielfach vorgebrachten Verdacht auf ein Fehlurteil nachzugehen. Es bedurfte der Initiative von Privatmenschen, die Ungeheuerlichkeit aufzudecken, die die Justiz hier verübt hat.
Und dann waren (und sind) immer noch zahllose Hürden zu überwinden. Warum wurde der Wiederaufnahmeantrag zunächst als unzulässig verworfen? Warum bezeichnet die Staatsanwaltschaft ihn bis heute als unbegründet? Warum hat es mehr als drei Jahre gedauert, bis die Justiz sich entschieden hat, einen neuen Prozess zuzulassen? Wie viele Justizirrtümer bleiben angesichts solcher Hindernisse unentdeckt? Viele Fragen, denen sich die Justiz dringend stellen muss.
Professor Dr. Achim Clausing, Münster
Dramatische Fehler im System:
Ich bewundere Hans Holzhaider für seine andauernde, unbeirrbare Berichterstattung in dieser zutiefst verstörenden, jeden redlichen Juristen beschämenden Angelegenheit. Seine klugen und glänzend geschriebenen Artikel haben zu diesem seltenen Sieg der Gerechtigkeit beigetragen.
Wie aber konnte es zu solchen Fehlurteilen kommen? Um mit der Macht eines Richters reflektiert und besonnen umzugehen, braucht es Interesse und Integrität. Das aber gilt keineswegs nur für den sogenannten Vorsitzenden Richter. Er fungiert im Strafprozess wegen eines Kapitalverbrechens nur als Primus inter Pares (Erster unter Gleichen). Tatsächlich gehören einer “großen Strafkammer” drei Berufsrichter und zwei ehrenamtliche Richter (Schöffen) an. Und doch herrscht der Eindruck vor, nur der Vorsitzende entscheidet über das Urteil, das er verkündet. Was ist mit den anderen vier Richtern?
Die beisitzenden Richter machen allzu oft genau das: Dabeisitzen. Das erleichtert dem Vorsitzenden die Verhandlungsführung. Die jüngeren Richter aber müssen sich mit dem Vorsitzenden Richter gut stellen. Wenn sie weiterkommen wollen in ihrer Richterlaufbahn, dann brauchen sie gute Beurteilungen und eine Empfehlung für höhere Aufgaben.
Auf die Schöffen wiederum wirkt das Gebaren eines Vorsitzenden Richters in seiner schwarzen Robe einschüchternd. Sie sollen “Menschen aus dem Volk” sein und haben oftmals keine höhere Bildung. Natürlich kennen sie sich mit Paragrafen nicht aus und wollen nicht vorlaut wirken. Am besten halten sie einfach den Mund, in der Verhandlung und auch später bei der Urteilsberatung. Die “echten” Richter werden sie nicht daran hindern. Man will ja fertig werden.
Ich habe es als Strafverteidigerin noch nicht ein einziges Mal erlebt, dass ein Schöffe in der Hauptverhandlung auch nur eine Frage gestellt hat. Die ehrenamtlichen Richter haben in der deutschen Strafjustiz die Funktion einer stummen Staffage. Sie wagen es nicht, dem Vorsitzenden zu widersprechen, selbst wenn er sie auf die gesetzlichen Bestimmungen und darauf hingewiesen hat, dass sie dieselben Rechte und Pflichten haben wie die Berufsrichter.
In den Genditzki-Verfahren haben insgesamt sechs Berufsrichter und vier Schöffen versagt. Die vom Gesetz gewollte Gewaltenteilung im Strafprozess funktioniert nicht. Es wird immer wieder solche Fehlurteile geben, die aber nur dann ans Licht der Öffentlichkeit kommen, wenn Menschen wie Hans Holzhaider dafür sorgen.
Elisabeth von Dorrien, Andernach
Über 13 Jahre im Gefängnis, Unschuldig hinter Gittern? Forscher der Universität Stuttgart sorgen für Zweifel an Mordurteil, SWR-Aktuell, 13.10.2022
Über fünf Jahre dauerte es, dann zeigte Synn Schmitt stolz das Ergebnis: eine punktgenaue Simulation des Badewannensturzes des ertrunkenen Opfers. Diese Simulation zeigte, was die Gutachter der ersten Prozesse nicht glauben wollten: Die tote Seniorin habe sehr wohl durch einen Sturz die Kopfwunden bekommen können. Mit dieser Erkenntnis lebt die Unfalltheorie wieder auf.
Außerdem konnte ein Kollege von Syn Schmitt an der Universität Stuttgart mit Hilfe eines thermodynamischen Verfahrens und der damit verbundenen Analyse der Wassertemperatur in der Badewanne G. ein Alibi verschaffen. Der Fall G. wird voraussichtlich im kommenden Jahr neu vor Gericht aufgerollt. Schon jetzt ist seine Anwältin Regina Rick überzeugt: Ihr Mandant wird freigesprochen.