Legal Tribune online setzt sich in einem aktuellen Beitrag mit einer Entscheidung des baden-württembergischen Richterdienstgerichts auseinander, mit der die Klagen eines Richters des OLG Karlsruhe gegen dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen der Präsidentin des Gerichts im Wesentlichen zurückgewiesen wurden.
Thomas Schulte-Kellinghaus sei, so heißt es dort, ein besonders sorgfältiger Richter, dessen Entscheidungen wegen ihrer Qualität besonders häufig in Fachzeitschriften abgedruckt werden. Und weil der Mann so sorgfältig arbeitet, braucht er für seine Fälle einfach länger als andere Richter.
Seit Jahren liegen seine Erledigungszahlen nur bei etwa zwei Drittel des durchschnittlichen Richterpensums. Das wiederum missfiel der OLG-Präsidentin Christine Hügel, die deshalb mit einem Vorhalt und einer Ermahnung gem. § 26 Abs. 2 des Deutschen Richtergesetzes reagierte. Schulte-Kellinghaus war darüber “not amused” und klagte deshalb gegen die Maßnahmen, die er als “einmaligen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit” qualifizierte. Auch die Präsidentin könne nicht von ihm verlangen, weniger sorgfältig zu arbeiten.
Die Meinungen scheiden sich an diesem Fall. Einzelheiten sind bei lto.de nachzulesen. Der Prädialrichter Konrad Brede, der das OLG vertritt, bezeichnete die Haltung seines Richterkollegen als “arrogant und überheblich”. Andere OLG-Richter arbeiteten auch sorgfältig, trug er vor, leisteten aber das Doppelte. Schulte-Kellinghaus müsse respektieren, dass nicht nur die richterliche Unabhängigkeit Verfassungsrang habe, sondern auch der Anspruch der Bürger auf Rechtsschutz in angemessener Zeit. Er müsse sich fragen, ob er seine Arbeit nicht effektivieren könne, ob er vielleicht unter Entscheidungsschwäche oder schlechter Organisation leide.
Am Ende lehnte das Richterdienstgericht die Klagen unter Bezugnahme auf die jüngste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 23.05.2012, Az.: 2 BvR 610/12) überwiegend ab. Vorhalt und Ermahnung seien zulässig gewesen, heißt es in der Entscheidung. Die von einem Richter zu erbringende Arbeitsleistung orientiere sich “pauschalierend an dem Arbeitspensum, das ein durchschnittlicher Richter vergleichbarer Position in der für Beamte geltenden regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit bewältigt”.
Das Thema ist schwierig. Wir erleben als Strafverteidiger einerseits allzu häufig, dass Richter sich nicht die erforderliche Zeit nehmen, ein Verfahren sorgfältig zu bearbeiten. Da wird dann viel zu schnell mit grober Elle gemessen, im Zwischenverfahren beispielsweise schauen sich viele Richter die Anklage und die Akte nicht einmal ansatzweise mit Sorgfalt an. Beweisanträge werden mit Scheinargumenten beiseite gekehrt, um eine lange Beweisaufnahme zu vermeiden. Es werden unzulässige Sanktionenscheren geöffnet, um die Verteidigung und den Angeklagten in einen verfahrensverkürzenden “Deal” zu zwingen. Es gibt viele weitere Beispiele, wir alle können davon zur Genüge berichten.
Andererseits dauern viele Verfahren viel zu lange, natürlich könnte da manches effektiviert werden. Ein befreundeter Richter erzählte mir einmal, dass er an einem richtigen Burnout-Syndrom litt und sich deshalb in Therapie begeben hat. Er habe gefühlte 60 bis 70 Stunden in der Woche gearbeitet, er sei völlig ausgebrannt gewesen. Sein Therapeut habe ihm aufgegeben, die Arbeitszeit mal über einige Wochen hinweg genau zu erfassen, und zwar einschließlich aller Pausen und Erholungsphasen, in denen nicht effektiv gearbeitet werde. Er sei auf eine tatsächliche Arbeitszeit von 27 Stunden pro Woche gekommen, eine phänomenale Erkenntnis, die bei ihm Vieles geändert habe.
Ich bin vor Jahren in einem dienstrechtlichen Verfahren tätig gewesen, das für einen Strafrichter fatal hätte enden können. Der Mann hatte übersorgfältig gearbeitet, jedes Geständnis eines Angeklagten hatte er noch aufwändig durch Beweisaufnahmen überprüft, seine schriftlichen Urteile waren außerordentlich akribisch und umfangreich. Wegen dieser Sorgfalt hatte der Richter es oft nicht geschafft, das schriftliche Urteil innerhalb der Fristen des § 275 StPO zur Akte zu bringen. Deshalb hatte er seine Geschäftsstellenmitarbeiter in mehr als hundert Fällen veranlasst, den Eingang des Urteils mittels einer Änderung des Datums falsch zu präsentieren. Das war irgendwann aufgefallen und hatte zu disziplinarrechtlichen Vorermittlungen geführt. Außerdem war der Richter sofort in ein anderes – familienrechtliches – Dezernat versetzt worden.
Das Problem war nicht nur ein dienstrechtliches. Nach § 338 Nr. 7 StPO stellt es einen absoluten Revisionsgrund dar, wenn die Entscheidungsgründe nicht fristgerecht zur Akte gelangen. Durch die Manipulation der Fristen war mithin denjenigen Angeklagten, die Rechtsmittel eingelegt hatten, ein absoluter Revisionsgrund “geklaut” worden. Der Verteidiger konnte der Akte schlichtweg nicht entnehmen, dass die Frist verletzt war, und deshalb auch keine (Sprung-)Revision hierauf stützen. Da liegt eine strafbare Rechtsbeugung durch den Richter, die im Falle der Verurteilung zwingend zur Entfernung aus dem Richterdienst führt, mehr als nur nahe.
Der Richter hat sich damals – beraten auch durch einen Präsidialrichter des Landgerichts – damit verteidigt, dass er die Vorschrift des § 338 Nr. 7 StPO nicht gekannt hätte. Er habe die Fristsetzung des § 275 StPO für eine bloße Ordnungsvorschrift gehalten, die keine revisionsrechtlichen Konsequenzen hätte. Der Direktor des Amtsgerichts, das Oberlandesgericht und auch das in die Angelegenheit einbezogene Justizministerium haben sich darauf verständigt, diese Einlassung als unwiderlegbar anzusehen. Deshalb liege auch kein Anfangsverdacht einer Rechtsbeugung vor. Die Sache ist nie der Staatsanwaltschaft zur Prüfung vorgelegt worden und endete mit einer Ermahnung des Richters und der beteiligten Geschäftsstellenmitarbeiter. Für den Richter, der ein netter Kerl ist, hat´s mich damals gefreut. Meine Empörung, wie die Justiz den Mantel des Schweigens über ihre Schäfchen breitet, habe ich unterdrückt, weil das im Interesse meines Mandanten lag.
Eine ähnlich großzügige Betrachtungsweise würde ich mir manchmal auch in anderen Fällen wünschen, wo Einlassungen gerne als “Schutzbehauptungen” zurückgewiesen werden.