Wenn der Angeklagte nach erstinstanzlicher Verurteilung Berufung eingelegt hat und zur Verhandlung über die Berufung ohne genügende Entschuldigung nicht erscheint, so folgt die Konsequenz aus § 329 I 1 StPO:
Ist bei Beginn einer Hauptverhandlung weder der Angeklagte noch in den Fällen, in denen dies zulässig ist, ein Vertreter des Angeklagten erschienen und das Ausbleiben nicht genügend entschuldigt, so hat das Gericht eine Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache zu verwerfen.
Die Berufung konnte also auch dann verworfen werden, wenn für den Angeklagten ein Verteidiger erschien, der durch den Angeklagten ausdrücklich bevollmächtigt worden war, ihn auch in dessen Abwesenheit zu vertreten.
Bereits seit mehr als einem Jahrzehnt wird vereinzelt vorgetragen, daß diese Vorgehensweise gegen die EMRK (Europäische Menschenrechtskonvention) verstößt, wonach jedem Angeklagten das Recht auf Vertretung durch einen “Verteidiger seiner Wahl” zusteht. Die deutsche Rechtsprechung hielt einen solchen Verstoß wohl für eher abwegig und hielt daher tapfer an § 329 I 1 StPO fest. So formulierte etwa das BVerfG im Beschluß vom 27.12.2006 (2 BvR 535/04) wie folgt:
“Der Gesetzgeber hat mit der Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO angesichts der auch in den Prozessprinzipien der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit des Verfahrens zum Ausdruck kommenden Grundsatzentscheidung gegen ein Abwesenheitsverfahren das Recht des Beschuldigten, über die Art und Weise der Ausübung seines rechtlichen Gehörs und seiner Rechte aus Art. 20 Abs. 3 GG (Recht auf Verteidigerbeistand) zu bestimmen, jedenfalls für den Fall des unentschuldigten Fernbleibens in verhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Aus dem Grundsatz des fairen Verfahrens folgt unter Berücksichtigung der Strukturprinzipien des deutschen Strafprozesses nicht, dass der Gesetzgeber und der die Strafprozessordnung anwendende Richter gehalten wären, für die hier zu beurteilende Konstellation eine Vertretung des unentschuldigt ausgebliebenen Angeklagten durch seinen Verteidiger vorzusehen oder zuzulassen.“
Konkret zur EMRK formulierte das BVerfG sodann:
“Bleibt er der Berufungsverhandlung ohne hinreichenden Grund fern, bedeutet dies – wenn, wie im Regelfall, eine Hauptverhandlung in seiner Anwesenheit vorausgegangen ist – keinen Verstoß gegen die Gewährleistungen des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK. Es ist nicht geboten, ihm diese Entscheidung unter Verstoß gegen Strukturprinzipien der Strafprozessordnung dadurch abzunehmen, dass sich der Angeklagte in der von ihm herbeigeführten zweiten Tatsacheninstanz durch seinen Verteidiger vertreten lassen könnte. […]Der Beistand des Verteidigers im Sinne des Art. 6 Abs. 3 Buchstabe c EMRK wird dem Angeklagten durch die Regelung des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht vorenthalten. Der Verteidiger kann für den Angeklagten geltend machen, dass die Voraussetzungen für die Anwendung der Vorschrift nicht gegeben seien. Die Berücksichtigung der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte entwickelten Grundsätze gibt unter Beachtung der durch die Strafprozessordnung vorgegebenen Prozessstruktur und des in ihr angelegten Rechtsmittelsystems keine Veranlassung, ein Abwesenheitsverfahren gleichsam durch die Hintertür einzuführen. Angesichts der Bedeutung, die die Anwesenheit des Angeklagten vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozess hat, ist eine Vertretung des Angeklagten zur Ermöglichung einer Verhandlung zur Sache von Verfassungs wegen nicht geboten.“
Auch in den Folgejahren, in denen der EGMR in ähnlichen Fällen wiederholt Konventionsverstöße feststellte, änderte sich die deutsche Rechtsprechung nicht (siehe etwa den am 14.06.2012 – II-1 RVs 41/12 – ergangenen Beschluß des OLG Hamm sowie den am 27.02.2012 – III-2 RVs 11/12 – ergangenen Beschluß des OLG Düsseldorf).
In dieser Rechtsfrage wurde zwischenzeitlich nach Ausschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angerufen, der am 08.11.2012 (Beschwerde-Nr. 30804/07, Neziraj v Deutschland) entschieden hat. Danach liegt in der dargestellten Vorgehensweise deutscher Gerichte eine Verletzung von Art. 6 Abs.1 iVm Art.6 Abs.3 lit.c der Konvention.
So stellte das Gericht fest, daß das Recht, sich durch einen Verteidiger vertreten zu lassen, “zu den tragenden Grundlagen eines fairen Verfahrens gehört”. Dieses Recht verliere ein Angeklagter nicht allein dadurch, daß er ohne hinreichende Entschuldigung der Hauptverhandlung fernbleibe. Es sei zwar das Interesse des Gerichts an der Anwesenheit des Angeklagten anzuerkennen. Dieses Interesse sei durch andere Mittel durchzusetzen. Der Anwalt, der bei Gericht in dem augenscheinlichen Interesse erscheine, seinen Mandanten in dessen Abwesenheit zu vertreten, sei hierzu Gelegenheit zu geben.
Die Argumente, mit denen sich Deutschland vor dem EGMR verteidigte, stießen dort wohl nicht sämtlichst auf Verständnis. So formuliert der EGMR an einer Stelle etwa “Der Gerichtshof nimmt des weiteren das Argument der Regierung zur Kenntnis, (…)“, um dann ausführlich darzulegen, aus welchem Grund das Argument nicht stichhaltig war. Bemerkenswert auch der “interessante” Versuch Deutschlands, dem EGMR darzulegen, auf welche Weise dessen Rechtsprechung in anderer Sache zu verstehen war (“Der Gerichtshof ist des Weiteren nicht von der Argumentation der Regierung überzeugt, dass er eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und 3 lit. c der Konvention im Fall Kari-Pekka Pietiläinen nur aufgrund der speziellen Umstände dieses Falles festgestellt habe …”).
Man darf auf die weitere Entwicklung der (innerstaatlichen) Rechtsprechung sowie der Reaktion unserer Gesetzgebung gespannt sein.
RA Müller