BUNDESGERICHTSHOF, Karlsruher Lotterie von Hipp, Dietmar, Der Spiegel, 29.07.2013
Richter des höchsten deutschen Strafgerichts urteilen, ohne die Akten gelesen zu haben: Eine Studie zeigt, dass Wohl und Wehe des Angeklagten oft an einem einzigen Richter hängt.
…Es gibt eine heikle Erklärung für diese Unterschiede, und sie wird nun erstmals durch eine noch unveröffentlichte Studie gestützt: Der erste Angeklagte könnte davon profitiert haben, dass sein Fall von einer als besonders milde bekannten Richterin vorbereitet wurde; beim zweiten Täter war ein eher strenger Kollege als Berichterstatter zuständig.
…Doch in der Praxis versagt diese wechselseitige Kontrolle offenbar regelmäßig. Der erst Ende Juni zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats ernannte BGH-Richter Thomas Fischer hat die schriftlichen Verfahren seines Senats jetzt untersucht und kommt zu einem spektakulären Ergebnis: Typischerweise setzt sich ein Richter, der sogenannte Berichterstatter, mit seiner Meinung durch – weil er neben dem Vorsitzenden in der Regel der Einzige ist, der die Akten gelesen hat.
…Ein Richter schaffte es, von 195 Urteilen nur eines komplett aufheben zu lassen – das ist eine Quote von 0,5 Prozent; bei zwei Kollegen lag die Quote der Komplettaufhebungen im Untersuchungszeitraum dagegen bei jeweils 9 Prozent.
…Strafrechtsanwälte in ganz Deutschland merkten auf. “Nach dem Gesetz gilt eigentlich das Zehn-Augen-Prinzip.
…”Dass nun plötzlich von einem Vier-Augen-Prinzip die Rede war, hat viele Strafverteidiger überrascht.”
…Fischer indes forschte in den Entscheidungen seines eigenen Senats nach, wie sich die Verletzung des Zehn-Augen-Prinzips auswirkt. Er räumt zwar ein, es könne “nicht ernstlich behauptet” werden, dass Richter dem Berichterstatter “aus einer allgemeinen Lustlosigkeit” freie Bahn ließen. Seine Feststellung, das Vier-Augen-Prinzip befördere “tendenziöse Ergebnisse auf Basis eingeschränkter Sachkenntnis”, ist aber schlimm genug. …