“Das sind Nazi-Methoden”, Frankfurter Rundschau, 22.05.2015
Ein Besuch beim 96-jährigen Wolfgang Lauinger: Im Dritten Reich saß er als Mitglied der Frankfurter „Swing-Jugend“ in Haft, in der Bundesrepublik als Homosexueller im Gefängnis.
…Wolfgang erzählt von einer rebellischen Jugend in Frankfurt zur Nazi-Zeit. „Swing, unsere Musik, war nur ein Ausdruck dafür, dass wir das Regime ärgern wollten.“ Die jungen Männer trugen „die Haare bis auf die Schultern“, die Sakkos bis ans Knie. Sie hören heimlich die verbotenen Jazz-Platten aus den USA und aus England. Wolfgang lernt den jungen Musiker Emil Mangelsdorff kennen, der auch zur „Swing-Jugend“ zählt.
Angst? Lauinger schüttelt den Kopf. „Den Begriff Angst gab es für uns nicht.“ Er stockt. „Wir konnten uns gar nicht vorstellen, dass das Regime Musik zum Vorwand nimmt, uns ins Gefängnis zu werfen.“ Der alte Mann bringt Tee und Tortenboden, mit Erdbeeren belegt. Lässt sich wieder in seinem geliebten Sessel nieder. „Wenn die Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 20 Jahren damals Angst gehabt hätten, hätte man keinen Krieg führen können.“
Er wird von der Gestapo verhaftet, zur selben Zeit wie Mangelsdorff. Einen Freund von ihm, den damals 16-jährigen Franz Kremer, foltern die Nazis im berüchtigten Keller im Haus Lindenstraße 27 im Westend. Kremer soll gestehen, dass Lauinger schwul ist – es hätte das Ende im Konzentrationslager bedeutet. Doch Kremer schweigt auch unter der Folter. Erst 1994 sollten sich die beiden Freunde in Frankfurt wiederbegegnen.
…Bei Lauinger bleiben nur die Vorwürfe übrig, „Feindsender“ gehört und gegen die strengen Regeln der Kriegswirtschaft verstoßen zu haben, außerdem wirft ihm das Regime illegales Glücksspiel vor, weil er in einer Kneipe mit Swing-Jugendlichen verkehrte. Aus dem Gefängnis entlassen, taucht er sofort unter, findet seine „arische“ Mutter in Baden-Baden, die von seinem Vater getrennt war. Dort lebt er bis zum Ende des Regimes.
Lauinger blättert aufgeregt in alten Akten und Zeitungsberichten. Es ist die „Frankfurter Rundschau“, die 1950 von einem Skandal berichtet: Die Staatsanwaltschaft geht gegen Homosexuelle in Frankfurt vor, etwa 100 Männer werden verhaftet. In seinem Büro in Buchschlag, in dem er für die US-Militärverwaltung arbeitet, wird Lauinger von der Polizei festgenommen. Homosexualität ist zu dieser Zeit noch strafbar, der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches galt zur Nazi-Zeit und gilt in den 50er Jahren noch immer. Lauinger kommt ins Untersuchungsgefängnis Hammelsgasse, das schon die Gestapo genutzt hatte. Er brüllt die Polizisten an: „Das sind Nazi-Methoden!“
Es stellt sich heraus: Ein Strichjunge hatte ihn und andere Männer denunziert. Tatsächlich unterhielt Lauinger zu ihm keine Beziehung, kannte ihn aber. „Er war einer von Tausenden von Jungen, die in der Nachkriegszeit versucht haben, am Leben zu bleiben – er ist missbraucht worden von der Polizei.“ Die Frankfurter Rundschau zitierte den Jugendlichen später mit der Aussage, er habe hauptsächlich Männer angeschwärzt, die ihm kein Geld gegeben hätten.
Lauinger sitzt acht Monate ohne Anklage im Gefängnis, wird in Untersuchungshaft immer wieder verhört. „Ich glaube noch heute, dass die die alten Gestapo-Akten benutzt haben.“ Beweisen kann er es nicht. Er schreibt an Bundespräsident Theodor Heuss, bittet um Hilfe. Der lässt mit einem Formschreiben antworten: Er sieht keine Möglichkeit, zu helfen. Dann kommt endlich der Prozess: Er wird freigesprochen, nach wenigen Minuten.
Wolfgang Lauinger aber muss erleben, „dass es noch 30, 40 Jahre gedauert hat, bis man die Nazis in Deutschland kritisieren durfte.“ Jetzt endlich werden all diese Geschichten erzählt. Der alte Mann sagt leise: „Hoffentlich hat es eine kleine, positive Wirkung.“