I. Die Justiz im Nationalsozialismus
Das „Dritte Reich“ hinterließ nicht nur unsägliches menschliches Leid, eine zerstörte politische Kultur und Städte in Trümmern. Zu den Hinterlassenschaften zählte auch ein von jeglichen rechtsstaatlichen Grundsätzen entkleidetes Recht und eine Justiz, die den zahllosen Formen der Unterdrückung, des Terrors und der „Ausmerzung“ nicht nur nichts entgegengesetzt, sondern sie selbst maßgeblich betrieben hatte.
Nicht nur die Richter des Volksgerichtshofes, der Sonder- und Militärgerichte, sondern nahezu alle Bereiche der Justiz einschließlich der Zivilgerichtsbarkeit waren nur allzu bereit, ihren Beitrag zur Stützung der NS-Gewaltherrschaft zu leisten. Bereitwillig war die Mehrzahl der Richter den sogenannten Richter-Leitsätzen gefolgt, die Reichsjuristenführer Hans Frank im Januar 1936 aufgestellt hatte. Darin hatte Frank von den deutschen Richtern gefordert, sich widerspruchslos in den Dienst des NS-Staates zu stellen, die Rechtsquellen in dessen Sinne auszulegen und alle Entscheidungen und Äußerungen des „Führers“ ohne Prüfung als geltendes Recht zu akzeptieren. Es sei an den Richtern, so Frank, auf dem Boden der nationalsozialistischen Rechtsanschauung stehend „die konkret völkische Gemeinschaftsordnung zu wahren, Schädlinge auszumerzen, gemeinschaftswidriges Verhalten zu ahnden und Streit unter Gemeinschaftsgliedern zu schlichten“.[1]
Die von der Justiz mitgetragene Rechtsdoktrin des NS-Staates hat Ernst Fraenkel in seiner bis heute wegweisenden Studie Der Doppelstaat mit der Bezeichnung „Maßnahmenstaat“ auf den Begriff gebracht.[2] Dessen rechtstechnischer Kern bestand darin, sämtliche Rechtsgarantien des Einzelnen sowie aller politischen und sozialen Kräfte zur Disposition zu stellen und den Zielen der Staatsführung zu unterwerfen, die damit nach Belieben über Leben, Freiheit und Eigentum der Menschen verfügen konnte. Mit der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, der sogenannten Reichstagsbrandverordnung, schaffte sich das Regime eine Grundlage, schrankenlos intervenieren zu können. Es ist in der Forschung mittlerweile unbestritten, dass die deutsche Richterschaft diesen Forderungen und den damit an sie gestellten Erwartungen weitestgehend nachkam. Sie ließ es zu, dass ihr die Rechtskontrolle über die Exekutive genommen wurde und sie setzte – oftmals im vorauseilenden Gehorsam – das Prinzip der Rassendiskriminierung um.[3] Noch vor Verabschiedung des „Gesetzes zum Schutze des deutschen Blutes und der Ehre“ im September 1935 billigten Gerichte in zahlreichen Entscheidungen, dass Standesbeamte die Eheschließung zwischen Juden und „Deutschblütigen“ verweigerten.[4] Wiederholt lehnten Zivilgerichte die Anwendung des Mieterschutzgesetzes auf jüdische Mieter ab und gestanden den Vermietern das Recht zur fristlosen Kündigung zu.
Dabei waren sich die Gerichte des offenen Rechtsbruchs voll bewusst. So führte beispielsweise das Landgericht Berlin in einer Entscheidung aus dem Jahr 1938 aus, dass mietrechtliche Fragen in Bezug auf jüdische Mieter nicht durch Auslegung des geltenden Mietschutzgesetzes gelöst werden könnten, da es sich um eine weltanschauliche Frage handle.[5] Als „Soldaten des Rechts“, wie es der Präsident des berüchtigten Volksgerichtshofes Roland Freisler ausdrückte, entwickelten Richter und Staatsanwälte ein beträchtliches Maß an Eigeninitiative und weiteten beispielsweise die gegen Juden gerichtete Gesetzgebung noch über den Wortlaut der Paragraphen aus. So wurde bei Anwendung des sogenannten „Blutschutzgesetzes“ der Begriff „Geschlechtsverkehr“ für jüdische Angeklagte auf Küsse und Umarmungen ausgeweitet und auch der Begriff des „Gewohnheitstäters“ zu Ungunsten der Angeklagten auf unzulässige Weise ausgedehnt.[6]
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