Der Fehler im System der deutschen Rechtsprechung bei Anne Will, Die Welt, 30.01.2014
Anne Will hat sich verirrt im Paragrafen-Dschungel. Zudem setzte sie dem Justizopfer Harry Wörz vier Juristen gegenüber. Doch manchmal reichen fünf Minuten aus, um eine ganze Sendung zu retten.
In einem System ohne Fehler darf es keinen Fehler im System geben. Die Frage, ob Fehlurteile wie im Fall von Harry Wörz auch wegen des Selbstverständnises der Justiz so dramatische Folgen haben, bricht ein Tabu: Nämlich, warum sich die Justiz für unfehlbar hält. Ein gefälltes Urteil revidieren zu lassen ist immer noch mit riesigem Aufwand verbunden. So war und ist das auch bei Harry Wörz der Fall.
Im Anschluss an die sehenswerte Verfilmung seiner Geschichte talkte Anne Will über das Thema: “Unschuldig hinter Gittern – Sind Justizirrtümer wirklich Ausnahmen?”. Es lag nicht nur daran, dass Harry Wörz selber anwesend war, dass es ein ungewöhnlicher Abend werden sollte. Sondern auch an der Auswahl der weiteren Gäste.
Wer auf die Idee kam, einem so interessanten Gast wie Wörz vier Juristen entgegenzusetzen, würde wohl auch zur Bundesliga-Analyse vier Sportwissenschaftler einladen – wobei ein Fußballspiel natürlich nicht mit dem Schicksal von Harry Wörz gleichzusetzen ist.
Vier Juristen in einer Runde: Das merkte man vor allem an der Sprache. Zwar mühte sich die gut aufgelegte Anne Will, die Diskussion verständlich zu gestalten, aber bereits nach kurzer Zeit entschuldigte sie sich für ihre “unpräzise, journalistische” Ausdrucksweise. Dabei war sie die Einzige, die dauerhaft versuchte, auch für Nicht-Juristen verständliche Sätze zu formulieren.
Wenn also nicht gerade Harry Wörz von seinen unglaublichen Erlebnissen berichtete (“Ich wache jede Nacht auf und höre Schlüsselklopfen, wie im Gefängnis”), verlief die Diskussion sachlich, wenig kontrovers und stets auf einer fachlichen Ebene. Manche würden das auch langweilig nennen.
Es folgte stets dem selben Schema: Anne Will sprach eines der vielen haarsträubenden Versäumnisse im Fall Wörz an. Harry Wörz schilderte sehr anschaulich aus erster Person. In der Diskussion danach fielen dann Stichworte wie “krasser Einzelfall” oder “nicht pauschalierbar”, und es kamen Verweise auf Paragraph “Sie-wissen-schon” oder den allseits bekannten “Fall xy”. Das war gar nicht immer nur Juristendeutsch, aber ohne den rechtswissenschaftlichen Diskurs zu kennen, wenig aufschlussreich.
Der politische Teil der Sendung kam über Allgemeinplätze nicht hinaus. Wenn über mögliche Strategien diskutiert wurde, wie ein weiterer Fall Wörz zu vermeiden sei, fielen Aussagen wie: “Jedes Fehlurteil ist eines zu viel.” Nachdem es die dritte Person gesagt hatte, hatten es dann wirklich alle verstanden. Die ehemalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) konnte zum Beispiel auch nicht anders, als den Ländern die Schuld für zu niedrige Haftentschädigungen zuzuschieben. Eine Argumentation, die immer funktioniert und nie weiterhilft.
Nur einmal, man merkte es an der Haltung von Anne Will, kam wirklich Spannung auf. Dabei stellte sie CDU-Politiker Wolfgang Bosbach bloß eine ganz einfache Frage: “Ist es ein Problem, dass die Justiz nicht irrt?” Die Tragweite ihrer Frage wurde ihr erst beim Stellen bewusst, man konnte es in ihrem Gesicht ablesen. Denn die Frage bedeutete so viel mehr.
Nach so viel “Einzelfall” und “nicht Vergleichbarem” wies Anne Will auf einen möglichen Fehler im System hin. Denn bei der Frage schwang mit: Kann es etwa sein, dass Fehlurteile auch deswegen zu so riesigen Problemen werden, weil das Justizsystem keine Widerrede zulässt? Weil auf jedem Urteil ein “Hauch der Unfehlbarkeit” liegt, wie Wolfgang Bosbach es dann treffend in seiner Antwort formulierte?
Ob das wirklich so ist, ließ sich in der Sendung leider nicht klären. Denn Bosbach machte es sich leicht: Ja, das sei ein Problem, aber ein menschliches. Nicht nur in der Justiz falle es den Menschen schwer, Fehler zuzugeben. Das komme auch in der Politik vor, sagte er mit einem süffisanten Lächeln. Als dann Heinrich Gehrke, Richter a.D., in dieselbe Kerbe schlug (“Bei jedem Einzelfall fragen, ob der Täter es wirklich war? Das geht nicht!”), war das Thema leider schon wieder durch.
Dabei hätte vielleicht Ralf Neuhaus, Strafverteidiger von Wörz, etwas Spannendes dazu sagen können. Als Einziger in der Runde widersprach er immerhin ab und an den anderen. Nur war er dabei so leise und verkopft, dass er sich einfach nicht behaupten konnte. Ganz am Schluss, die Sendung war schon so gut wie vorbei, hatte er seinen besten Moment, als er feststellte: “Ein Fehlurteil ist kein Kismet. Die Qualität der Rechtsprechung kann nur so gut sein, wie das schwächste Glied der Wahrheitsfindung.” Auch wenn Neuhaus diese Frage nicht stellte, so liegt sie doch auf der Hand: Was, wenn gar nicht das schwächste Glied das Problem ist, sondern das stärkste? Da ist er wieder, der Fehler im System.