Die Unschuldsvermutung ist ein hohes rechtsstaatliches Gut. Ihre Bedeutung zeigte sich jüngst im Fall des unschuldig Verhafteten in Emden. Zu der öffentlichen Hetzjagd auf den erst 17-Jährigen führte auch das kollektive Versagen von Polizei und Justiz, meint Gerhard Strate. Denn erst die verfrühte Festnahme des Verdächtigten gab dem Mob Auftrieb.
Am Mittwoch der vergangenen Woche hat eine Richterin des Amtsgerichts (AG) Emden Haftbefehl gegen einen 17-Jährigen Berufsschüler erlassen. Die Ermittler und mit ihnen die Haftrichterin schienen sich sicher zu sein, den Mörder der elfjährigen Lena dingfest gemacht zu haben. Grundlage eines Haftbefehls ist nach dem Gesetz ein dringender Tatverdacht: Das meint eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich um den Täter handelt. Diese hohe Wahrscheinlichkeit muss sich außerdem aus bestimmten Tatsachen, nicht aus bloßen Vermutungen herleiten.
Nun kann auch ein dringender Verdacht ein falscher Verdacht sein. Zwei Tage später wurde der 17-Jährige aus der Untersuchungshaft entlassen, weil “Fakten eine Täterschaft des Jungen ausschließen”, so Bernard Südbeck, Leiter der Staatsanwaltschaft Aurich. Was denn nun die Fakten waren, die den 17-Jährigen als unschuldig erscheinen ließen, erläuterte Südbeck nicht.
Das Geheimnis wurde zwei Tage später gelüftet: Ein inzwischen festgenommener 18-Jähriger hatte eine Speichelprobe abgegeben, die dann unmittelbar im Landeskriminalamt Hannover untersucht und mit den am Tatort gesicherten Spuren abgeglichen worden war. Das am Samstagabend vorliegende Ergebnis war eindeutig: Die DNA-Spuren vom Tatort und aus der Speichelprobe sind identisch. …
Bei dem zweiten Tatverdächtigen, mutmaßlich dem tatsächlichen Täter, war dies noch innerhalb des Festnahmetages möglich und führte zu aussagekräftigen Ergebnissen. Warum die von Polizeireportern begleitete Festnahme, warum stundenlange Verhöre durch Polizei und Richterin, warum der Erlass eines Haftbefehls, ohne den einzig wirklichen Tat- oder Unschuldsnachweis abzuwarten? Warum einen Haftbefehl erlassen, der offenbar auf nicht viel mehr als auf widersprüchliche Angaben zu einem Alibi gestützt war? Der Alibibeweis ist immer ein schlechter Beweis, sowohl zur Entlastung als auch erst recht zur Überführung des Verdächtigen, das weiß jeder Kriminalist. Sein Misslingen kann nie die Verurteilung eines Verdächtigen rechtfertigen. …
“Wir haben zu jeder Zeit richtig gehandelt” – so kommentierte am Freitag der Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck seine und die Arbeit die Polizei. Auch dies ist ein Irrtum.
Mordfall Lena Der falsche Verdacht, Frankfurter Allgemeine, 01.04.2012
Nach dem Mord an Lena stand ein siebzehnjähriger Schüler unter Mordverdacht. Ermittlungsbehörden gaben Informationen über ihn preis, er wurde zum Opfer einer medialen Hetzjagd. Der Umgang mit dem bloßen Verdacht gerät zu einem dramatischen Problem.
Emden: Öffentlichkeitsarbeit der Polizei und Lynchjustiz-Aufruf gegen Unschuldigen
Während man noch gestern Mittag der Presse gegenüber angab, der 17jährige habe “kein Alibi” (Bericht der rp von gestern) und habe sich in Widersprüche verstrickt (Bericht des Hamburger Abendblatts von gestern), wurde der Jugendliche heute freigelassen, nachdem sich der Tatverdacht offenbar in Luft aufgelöst hatte (zdf).
Die Festnahme des Tatverdächtigen gab Anlass zu Aufrufen auf facebook, die auch tatsächlich dazu führten, dass die Polizeidienststelle, in der der Tatverdächtige vernommen wurde, von ca. 50 Personen, einer Art Lynchmob, belagert wurde (Bericht).