Wenn Bilder reden, Süddeutsche.de, 27.03.2014
Der strafrechtliche Zugriff auf den Kunstschatz von Cornelius Gurlitt war unverhältnismäßig. Doch er hat zu einer phantastischen Endeckung geführt, die einst toten Bilder reden nun. Wer den Fall studiert, ist hin- und hergerissen zwischen Recht und Moral.
Die Beschlagnahme der 1280 Gurlitt-Kunstwerke durch die Staatsanwaltschaft Augsburg vor zwei Jahren war ein strafrechtlicher Fehler, ein großer, ein gewaltiger, ja ein unfassbarer strafrechtlicher Streich. Man liest den dürren Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss der Ermittlungsrichterin in Augsburg, der alles ins Rollen gebracht hat, und ist entgeistert: Da wurde die Eintrittskarte zu einer Vorstellung ausgestellt, von der die Richterin keine Ahnung hatte.
Da wurde wegen eines mickrigen Steuervorwurfs auf einen Hundert-Millionen-Wert zugegriffen. Der strafrechtliche Zugriff auf den Kunstschatz war unverhältnismäßig, er ist ein Skandal. Aber zugleich war dieser Zugriff gesegnet – gesegnet mit einer phantastischen Entdeckung, Enthüllung und Offenbarung. Eine falsche Anwendung des Rechts hat dazu geführt, dass die Wahrheit über die Bilder und ihr Schicksal entdeckt wurde oder entdeckt werden kann. Wer diesen Fall Gurlitt studiert, ist daher hin- und hergerissen zwischen Recht und Moral. …
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Die Beschlagnahme der 1280 Bilder erfolgte wegen des wackeligen Verdachts einer “Verkürzung der Einfuhrumsatzsteuer”. Vom Wert der Bilder kann die Steuerschuld, so sie denn überhaupt besteht, mindestens zehntausend Mal bezahlt werden. Ein eklatanteres Beispiel für Unverhältnismäßigkeit kann man sich kaum ausmalen. Man muss Paragrafen schon sehr verbiegen, um 1280 Bilder daran aufzuhängen in einem Strafverfahren, in dem der einzige greifbare Vorwurf darin besteht, dass der Beschuldigte 9000 Euro aus vermeintlich unklaren Geschäften bei sich geführt hat. Dem alten Mann ist Unrecht widerfahren.
Den Menschen, denen Gurlitts Bilder einst gehörten, ist viel, viel größeres Unrecht widerfahren. Es kann nicht gegeneinander aufgerechnet werden. Und es können die Bilder, auch wenn es sich nicht um Raubkunst handelt, auch nicht einfach an Gurlitt zurückgegeben werden. Sie sind in keiner Wohnung Gurlitts mehr sicher. Die Unsicherheit der Eigentumsverhältnisse an den Bildern ereilt also nun auch die Ausübung des Besitzrechts von Gurlitt. Vielleicht ist dies eine List der Geschichte, weil sie sieht, dass Recht und Gesetz an ihre Grenzen stoßen.