Anwaltsgehilfin kämpft gegen juristische Mühlen – und gewinnt, Rhein-Zeitung, 28.04.2013
Bruchertseifen/Altenkirchen – Es glich einem Kampf David gegen Goliath: Rechtsanwaltsfachgehilfin Stefanie Tiryaki wollte ihrem Lebensgefährten helfen, der einen Teil seiner Haftstrafe zu Unrecht absaß. Dafür wälzte sie Strafrechtsbücher und siegte nun beim Bundesverfassungsgericht.
Es glich einem Kampf David gegen Goliath: Rechtsanwaltsfachgehilfin Stefanie Tiryaki wollte ihrem Lebensgefährten helfen, der einen Teil seiner Haftstrafe zu Unrecht absaß. Dafür wälzte sie Strafrechtsbücher und siegte nun beim Verfassungsgericht.
Ihre Geschichte erinnert ein wenig an den Hollywood-Streifen „Erin Brockovich“ mit Julia Roberts. Darin errang eine kleine Rechtsanwaltsgehilfin vor Gericht einen fulminanten Sieg gegen eine große Firma. Stefanie Tiryaki aus Bruchertseifen (Kreis Altenkirchen) hat den gleichen Beruf wie die filmische Heldin, sie kämpfte jedoch nicht gegen ein korruptes Unternehmen, sondern gegen die Justiz – David gegen Goliath also.
Stefanie Tiryaki ist eine freundliche junge Frau, die kurzen Haare trägt sie modisch gestylt und hat sie in frechem Rot gefärbt. Sie ist nicht besonders groß, hat aber Übergroßes geleistet, als ihr Lebensgefährte vor zwei Jahren zu Unrecht eine Haftstrafe auferlegt bekam. Zwar hatte die junge Frau zu diesem Zeitpunkt schon fast zehn Jahre nicht mehr in einer Kanzlei gearbeitet, dann aber erwachte plötzlich ihr juristischer Instinkt. Sie setzte alle Hebel in Bewegung, kämpfte sich durch Aktenberge und Strafrechtbücher, um am Ende vor der obersten juristischen Instanz, dem Bundesverfassungsgericht, zu siegen.
Begonnen hatte alles 2010. Weil er eine Rechnung über 104,99 Euro nicht beglichen und auch auf mehrmalige Mahnungen nicht reagiert hatte, flatterte Tiryakis Lebensgefährten eine Anklage wegen Betrug ins Haus. „Wir waren im Stress, hatten uns gerade selbstständig gemacht, die Rechnung war einfach in Vergessenheit geraten. Außerdem ist mein Freund in dieser Hinsicht leider wirklich schlampig“, erzählt Stefanie Tiryaki. Diese „Schlampigkeit“ hatte schon in der Vergangenheit zu mehreren Verfahren und Verurteilungen geführt – bisher allerdings war der Freund immer mit einem blauen Auge, einer Bewährungsstrafe nämlich, davongekommen.
Diesmal hatte der Amtsrichter aufgrund des Vorstrafenregisters kein Mitleid mehr, der Prozess endete mit einer fünfmonatigen Haftstrafe. Damit aber nicht genug: Zwei alte Bewährungsstrafen aus den Jahren 2003 und 2008 wurden in diesem Zuge ebenfalls in Haftstrafen umgewandelt, da er ja in der Bewährungszeit wieder straffällig geworden war. Nun lagen insgesamt eineinhalb Jahre Gefängnis vor ihm.
Stefanie Tiryaki ist entsetzt. Als Rechtsanwaltsfachgehilfin weiß sie, dass man gegen die Verurteilung und die erste widerrufene Bewährungsstrafe aus dem Jahr 2008 wenig ausrichten kann – anders liegt der Fall bei der Strafe aus 2003. „Ich war mir sicher, dass das verjährt ist“, sagt Tiryaki.
„Ich bin schon stolz, wenn man bedenkt, dass nur etwa 2,5 Prozent aller Verfassungsbeschwerden überhaupt bearbeitet werden.“
Stefanie Tiryaki über ihren Erfolg
Um Kosten zu sparen, recherchiert die Rechtsanwaltsfachangestellte nun selbst weiter. Zwar hat Stefanie Tiryaki seit 2000 nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet, sie hat aber den Vorteil, dass sie mit einer Akte umgehen, den juristischen Jargon lesen und verstehen kann und vor allen Dingen weiß, wie wichtig es ist, Fristen zu beachten.
Sie fordert alle Unterlagen an, liest sich ins Strafrecht ein, recherchiert im Internet. „Es war wie ein Jura-Crashkurs“, sagt sie. Sowohl in der Gnadenverordnung als auch im Strafgesetzbuch wird sie fündig: Die Bewährungszeit darf maximal fünf Jahre betragen. Die alte Bewährungsstrafe aus 2003 war also zu Unrecht in eine Haftstrafe umgemünzt worden. Als sie glaubt, Aussicht auf Erfolg zu haben, schaltet sie für das Wiederaufnahmeverfahren einen Anwalt ein. Doch der Antrag wird in zwei Instanzen abgelehnt. „Der Anwalt meinte nur zu mir: ,Nach dem Oberlandesgericht ist der Himmel blau.’“ Für die junge Frau bleibt damit nur noch eine Option: das Bundesverfassungsgericht.
Durch den Umgang mit der Materie ist Stefanie Tiryaki nun aber mutig geworden – mutig und auch wütend. „Es ist erschütternd, was da teilweise in der Justiz abläuft. Das hab ich nicht nur in unserem Fall gesehen, sondern auch bei einigen Mithäftlingen meines Freundes.“ Die Verfassungsbeschwerde formuliert Tiryaki selbst. Und das Unmögliche wird möglich: Man gibt ihr recht. „Jetzt können wir endlich mit der Angelegenheit abschließen. Ich bin schon ein bisschen stolz, wenn man bedenkt, dass nur etwa 2,5 Prozent aller Verfassungsbeschwerden überhaupt bearbeitet werden“, freut sich die Laienjuristin. „Selbst mein Anwalt meinte, das wäre schon ein toller Erfolg.“
An der Haftstrafe für ihren Lebensgefährten kann die junge Frau mit ihrem beherzten Einsatz nichts mehr ändern, dafür mahlen die Mühlen der Justiz zu langsam. Im Januar kehrt er zu Stefanie Tiryaki zurück – nach Verbüßung der gesamten eineinhalb Jahre. „Die gestohlenen sechs Monate konnte ich ihm zwar nicht zurückgeben. Aber es steht ja jetzt Entschädigung im Raum, wo wir das Urteil bekommen haben.“
25 Euro pro Tag (minus 6 Euro für Verpflegung) könnten bei zu Unrecht abgesessener Haftstrafe auf das Opfer warten. Zudem habe ihr Lebensgefährte für 10 Euro am Tag Vollzeit gearbeitet. Hätte er nicht eingesessen, hätte er seinen normalen Lohn bezogen. Hinzu kommen natürlich auch noch Gerichts- und Anwaltskosten. „Ganz zu schweigen von dem ganzen Porto. Davon könnte man schon eine tolle Party schmeißen“, sagt Tiryaki.
Im Film erhält die arme Rechtsanwaltsfachgehilfin am Ende die Hälfte der Millionenentschädigung – im wirklichen Leben wird es zwar nicht so viel Geld geben, dafür aber auch ein Happy End: Nach der langen Trennung durch die Haftstrafe wollen die beiden jetzt keine Zeit mehr verschwenden. Schon im Sommer sollen die Hochzeitsglocken läuten.
Und auch beruflich wird sich Stefanie Tiryaki verändern. Die Laienjuristin hat nämlich nun selbst mit dem Jurastudium begonnen. „Einen Schnellkurs hatte ich ja schon, jetzt will ich die Sache vertiefen“, lacht sie. Wenn sie ihr Examen in der Tasche hat, würde sie gern Menschen beraten, die wie sie scheinbar hilflos vor einem schier übermächtigen System stehen. „Nachdem die Rhein-Zeitung über mich und meinen Fall berichtet hatte, bin ich unzählige Male angesprochen worden. Viele wollen sich gern wehren, wenn sie merken, dass was falsch gelaufen ist. Aber sie wissen oft einfach nicht wie.“
Um diesen Menschen, die wie ihr Lebensgefährte Opfer juristischer Irrtümer geworden sind, eine Plattform zu geben, hat sie bereits einen Verein gegründet (Kontakt über Facebook-Seite Pro-Häftling). Der Zulauf ist groß, 84 Mitglieder zählt die Gruppe, einige von ihnen, so Tiryaki, hätten noch Haarsträubenderes erlebt als sie. „Ich kann ihnen allen immer nur wieder Mut machen mit unserer Geschichte und mit auf den Weg geben, dass sie niemals aufgeben sollen – egal, wie aussichtslos eine Sache erscheint.“
…und ein Buch zum Fall gibt es auch
Neben dem Studium hat sie nun noch begonnen, ihre Geschichte aufzuschreiben. Das Buch wird den Titel „Die Macht der Gerechtigkeit“ tragen und soll bald erscheinen. Und wer weiß – vielleicht macht ja mal irgendwer einen Film daraus.