Deutschlands Staatsanwälte bringen immer mehr Top-Manager vor Gericht. Doch die spektakulären Aktionen sind Ausnahmen. Tatsächlich müssen die Fahnder ständig vor komplexen Wirtschaftsverbrechen kapitulieren.
Hans-Jürgen Karge, der bis 2006 als Generalstaatsanwalt von Berlin 350 Staatsanwälten vorstand, prophezeit angesichts der Masse an Fällen, die die Fahnder nicht adäquat oder gar nicht anpacken, gar den Justiz-GAU: „Wir müssen eingestehen, dass wir Wirtschaftskriminalität nicht wirksam bekämpfen können. Die Justiz hat in den vergangenen Jahrzehnten vieles versucht, ist aber letztlich gescheitert.“
Die Folgen treffen viele Beteiligte. Geschädigte Bürger und Unternehmen müssen fürchten, nicht zu ihrem Recht zu kommen. Unschuldige Manager, gegen die ermittelt wird, warten oft jahrelang auf eine Klärung der Vorwürfe – da sind Ruf und Karriere meist schon ruiniert. Und mancher Übeltäter in Nadelstreifen kommt durch einen Deal mit Staatsanwälten und Richtern glimpflich davon, während die Justiz die Vergehen einfacher Gesetzesbrecher bis zum Ende verfolgt. Das birgt gesellschaftlichen Sprengstoff. Auch die Wirtschaft ist auf eine funktionierende Strafverfolgung angewiesen.
Tadellos ist der Ruf des deutschen Rechtssystems nicht mehr, es gerät international unter Beschuss. So fordern die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), die OECD und ein G20-Gipfel 2010 in Seoul von Deutschland, endlich Hinweisgeber (Whistleblower) besser zu schützen. Die Vereinten Nationen mahnen zudem eine bessere Korruptionsbekämpfung an.
Kritik aus dem Ausland und immer offensichtlichere Missstände haben jetzt die Politik auf den Plan gerufen. Die Justizminister der Länder fordern von Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), mit einem Bündel von Maßnahmen Wirtschaftskriminalität wirksamer zu bekämpfen und Staatsanwälten neue Instrumente an die Hand zu geben.
So sollen Whistleblower rechtlich besser geschützt und so ermutigt werden, Straftaten anzuzeigen. Auch soll es künftig möglich sein, nicht nur Personen, sondern auch Unternehmen wegen Straftaten vor Gericht zu zerren. Einen entsprechenden Vorstoß des Landes Nordrhein-Westfalen gab es vergangene Woche in der Justizministerkonferenz in Berlin.
Bei Ordnungswidrigkeiten ist es jetzt schon möglich, Unternehmen mit Bußgeldern zu belegen. Diese Bußgelder will die Bundesregierung zur Abschreckung von bisher maximal einer auf zehn Millionen Euro erhöhen. Das Gesetz wurde am 18. Oktober vom Bundestag verabschiedet.
Auf dem Prüfstand
Zugleich steht die grassierende Deal-Praxis beim Bundesverfassungsgericht auf dem Prüfstand. Ein Gutachten, das die Karlsruher Richter dazu bei der Universität Düsseldorf in Auftrag gaben, fiel wenig schmeichelhaft für die Damen und Herren in den schwarzen Roben aus: Die Hälfte aller Deals könnte illegal sein. Ex-Staatsanwalt Karge verwundert das nicht. „Deals“, sagt er, „sind einfach eine Kapitulation vor der Komplexität der wirtschaftlichen Materie. Der Staatsanwalt steigt nicht durch, bekommt aber trotzdem ein Urteil. Das lautet dann meist: zwei Jahre auf Bewährung.“
Das war auch das Strafmaß etwa im Fall des Ex-Postchefs und rechtskräftig verurteilten Steuerhinterziehers Klaus Zumwinkel oder des früheren Ferrostaal-Rüstungsmanagers und Schmiergeldzahlers Johann-Friedrich Haun, die mit ihren Deals längere Verfahren mit ungewissem Ausgang abwenden konnten.
Die Komplexität, die für immer mehr Deals sorgt, sei aber nicht bloß Schicksal, sondern kalte Strategie von Wirtschaftsanwälten, sagt der Aktienrechtler Oliver Maaß von der Münchner Kanzlei Heisse Kursawe Eversheds: „Wenn es um Wirtschaftsstrafrecht, etwa größere Betrugs- und Untreuefälle geht, ist es kein Problem, die Fälle so komplex zu machen, dass der Staatsanwalt aufgibt und gegen geringe Auflagen das Verfahren einstellt.“
Bereits 2006 hagelte es Kritik, als der damalige Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und andere frühere Mannesmann-Aufsichtsräte sich so aus den Verfahren wegen unberechtigter Megaabfindungen ans frühere Mannesmann-Management herauskaufen konnten. Jetzt brach erneut ein Entrüstungssturm über die Praxis der Deals los, als sich das Landgericht München im September mit Ex-MAN-Vorstand Weinmann auf zehn Monate und 100.000 Euro Geldauflage einigte.
Doch was, wenn die Verfassungsrichter strikte Grenzen ziehen? Ohne Deals müssten die Staatsanwaltschaften statt der juristischen Abkürzung trotz überstrapazierter Kapazitäten häufiger den langen Verfahrensweg gehen – oder eingestehen, dass sie mit einem Verdacht auf dem Holzweg sind.
Genau diese Größe haben professionelle Ermittler nicht immer. Manchmal verbeißen sie sich so in das Ziel, einen Schuldigen zur Strecke zu bringen, dass ihnen der Blick für dessen Unschuld schlicht fehlt – und vergeuden dabei knappe Kapazitäten.