Justiz-Skandal: St. Wendeler sitzt 2 Jahre unschuldig in Haft
St. Wendel. Der vollbärtige Mann mit tiefen Falten auf der Stirn kann wieder lachen. Norbert Kuß ist mit seinen 70 Jahren ein sportlicher Typ, der als früherer Langstreckenläufer Selbstdisziplin und Ausdauer bewiesen hat.
Diese antrainierten Eigenschaften und insbesondere der stabile Rückhalt von Familie und Freunden haben ihm geholfen, einen fast unglaublichen Marathon vor den Schranken der Strafjustiz zu gewinnen.
Nach mehr als zehn Jahren, in denen die Existenz der Familie aus dem Marpinger Ortsteil Alsweiler wiederholt auf der Kippe stand, hat der frühere technische Beamte des Heeresinstandsetzungswerkes in St. Wendel Gewissheit: Er wurde zu Unrecht verurteilt.
Fast zwei Jahre saß er dafür im Gefängnis. Am 7. November fiel das erlösende Urteil. Das Schöffengericht am Amtsgericht Neunkirchen sprach den Familienvater vom Vorwurf des mehrfachen sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen frei – aus „tatsächlichen Gründen“, wie es Juristen trocken und neutral formulieren.
Dieser Richterspruch ist zwischenzeitlich rechtskräftig.
Damit steht fest: Kuß ist ein Opfer der saarländischen Justiz.
Was er und seine Frau Rita seit Januar 2003 erlebten, dokumentiert einen sicher einzigartigen Skandal.
Das Ehepaar Kuß hatte am 21. Juli 2001 die damals zwölfjährige Susi (Name geändert) als Pflegekind in ihre Familie aufgenommen, zu der auch ein Adoptiv- und ein Pflegesohn gehören. Das lernbehinderte Kind mit Heimerfahrung kam aus problematischen Verhältnissen, fiel als besonders aggressiv auf, wenn etwas nicht nach seinem Willen lief. Im Rückblick berichten die Eheleute von „sehr sexualisiertem und provokantem Verhalten“. Fast täglich standen die Pflegeeltern mit Jugendamt, Psychiater und Beratern in Kontakt. Im Dezember 2002 eskalierte die Situation. …
Erste Hinweise auf Sexual- und frühere Missbrauchserfahrungen des Mädchens wurden im Prozess überhört oder ignoriert.
Der Bundesgerichtshof verwarf die Revision. Das Urteil wurde rechtskräftig. Eine Verfassungsbeschwerde und zwei Wiederaufnahmegesuche scheiterten, obwohl der Saarbrücker Strafverteidiger Jens Schmidt unter anderem auf ein „wasserdichtes Alibi“ seines Mandanten für einen genannten Tatzeitpunkt (während eines Arztbesuches der Ehefrau) hinwies.
Kuß wurde von seinem Dienstherrn auf Grundlage des rechtskräftigen Urteils nach fast 46 Jahren zwangsweise aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Die Familie stand damit vor dem Ruin. „Wir hatten mitunter das Brot nicht mehr über Nacht daheim“, erzählt seine Frau. Das Eigenheim in Alsweiler stand wiederholt vor der Zwangsversteigerung.Freunde und Bekannte halfen in der Not. Es kam aber noch schlimmer.
Norbert Kuß musste sich am 2. Januar 2006 in der Saarbrücker Justizvollzugsanstalt „Lerchesflur“ zur Verbüßung seiner Haft melden. Hinter Gittern sprach sich wie ein Lauffeuer herum, dass er wegen Kindesmissbrauchs verurteilt war. Diese Häftlinge stehen in der Knasthierarchie ganz unten. Der Ex-Beamte berichtet von Drohungen und Erpressungsversuchen und schlaflosen Nächten. „Ich hatte Angst. Die durfte ich aber nicht zeigen. Es wusste keiner, wie schwach oder stark ich bin.“ Auch im Knast wurde ihm eine vorzeitige Entlassung signalisiert, wenn, ja wenn er endlich ein Geständnis ablegen würde. Kuß lehnte ab, wurde zum Musterhäftling, wirkte freiwillig bei einer Begutachtung mit, beantworte selbst intimste Fragen. Zwei Mal im Monat durfte seine Frau ihn besuchen.
Kuß erhielt zudem viel aufmunternde Post aus seinem Heimatort, aber auch ernüchternde Schreiben. So wurde ihm im Knast die Zivilklage seiner Ex-Pflegetochter Susi zugestellt. Sie wollte 25.000 Euro Schmerzensgeld. Dass ausgerechnet diese Klage vor dem Landgericht die Wende bringen sollte, konnte der damals Inhaftierte nicht ahnen. Die Zivilrichter wiesen die Klage als unbegründet ab. Im Gegensatz zu ihren Kollegen von der Strafkammer waren sie nicht mit der „erforderlichen Gewissheit“ davon überzeugt, dass Kuß das Mädchen missbraucht hatte: „Das erkennende Gericht vermag sich den Feststellungen des Strafurteils nicht anzuschließen.“ Klägerin Susi ging in Berufung vor das Oberlandesgericht (OLG).
Während ihr Mann im Gefängnis immer wieder seine Unschuld beteuerte, schritt Rita Kuß gemeinsam mit Anwalt Schmidt zur Tat. Im Vorfeld eines dritten Wiederaufnahmegesuchs beauftragte sie einen promovierten Diplom-Psychologen mit einer Analyse der Expertise der Homburger Gerichtssachverständigen, die die Aussagen der Ex-Pflegetochter als glaubhaft eingestuft hatte. Der Privatgutachter listete aus seiner Sicht Dutzende handwerkliche und sachliche Fehler sowie „methodischer Mängel und Fehleinschätzungen“ auf und meldete „Anlass zu Zweifeln an der Kompetenz der Sachverständigen“ an.