Justizapparat fühlt sich den Mächtigen verpflichtet, Wissensschaftskriminalität unter lügenden Gutachtern zur Vereitelung der Rechte von Opfern, 07.06.1999

Die Lügen der Experten, von Oberstaatanwalt a.D. Erich Schöndorf, DER SPIEGEL 23/1999, Seite 44, 07.06.1999

Ein Problem der mit Umweltgiften durchseuchten Industriegesellschaft wird von Politikern, Ärzten und Juristen totgeschwiegen: die Schädigung vieler Menschen durch krank machende Chemikalien. Jetzt wollen die Betroffenen sich wehren. Von Erich Schöndorf

Schöndorf, 51, war Staatsanwalt im Holzschutzmittelprozeß, dem bislang längsten Umweltstrafverfahren der Republik. Angeklagt waren Manager zweier Unternehmen, deren vor allem von Heimwerkern benutzte Produkte die giftigen Substanzen PCP und Lindan enthielten. Das Verfahren wurde 1996 gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt – Schöndorf quittierte seinen Dienst. Heute ist er Professor für Umweltrecht an der Fachhochschule Frankfurt.

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Können Menschen so krank sein? Unter zwei oder drei Dutzend Beschwerden und mehr gleichzeitig leiden, von Schmerzen am ganzen Leib gepeinigt werden, so daß die Nerven außer Kontrolle und die Seele in Not geraten? Daß Muskelkrämpfe sich mit Müdigkeit, Depressionen und Dauerdurchfall zur Hölle auf Erden addieren?

So krank können Menschen sein, wenn sie giftigen Chemikalien ausgesetzt sind. Nicht etwa im Zusammenhang mit Katastrophen der Kategorie Seveso oder Bhopal, auch nicht durch unsachgemäße Verwendung der fraglichen Stoffe, nein, allein aufgrund des alltäglichen Chemikalienwahnsinns.

Opfer sind Heimwerker und ihre Familien, die in ihren Wohnungen Holzschutzmittel verstrichen haben, ebenso wie Anästhesisten, Chirurgen und OP-Helferinnen, die in narkosegasgesättigten Operationssälen tätig waren, oder Arbeiter, die beim Entfetten von Metallteilen mit Lösemitteln in Kontakt gekommen sind, und Flugbegleiter, die mittels Pyrethoiden für insektenfreie Maschinen sorgen mußten. Die Liste ist lang.

Was bisher als stille Katastrophe von den Verantwortlichen totgeschwiegen und mit allerlei Tricks unter der Decke der marktwirtschaftlichen Normalität gehalten werden konnte, bricht nun auf. Ermutigt vom Machtwechsel in Bonn, suchen die zahlreichen Patientenverbände und Selbsthilfegruppen eine politische Entscheidung. Wenn die SPD-Bundestagsfraktion diese Woche unter dem Titel “Umweltbelastungen und Gesundheit” zu einer Anhörung ins Bonner Wasserwerk bittet, mag das vielen als Hoffnungsschimmer erscheinen. Eine Kurskorrektur ist auch dringend nötig, denn bisher haben immer nur die aufgrund der Chemisierung kranken Menschen verloren.

Beispielsweise bei ihren Ärzten. In den Praxen der Hausärzte fallen die wichtigsten medizinischen Entscheidungen. Falschen Diagnosen folgen verkehrte Therapien. Der Kranke bleibt krank oder wird kranker. Die Gründe für die flächendeckende Kapitulation der Mediziner liegen auf der Hand: Sie haben die Disziplin nicht gelernt. In ihren Studienplänen kamen Toxikologie oder gar Umweltmedizin nicht vor. Wenn es um Vergiftungen ging, dann waren es die klassischen Fälle – der irrtümliche Schluck aus der Flasche mit dem Reinigungsmittel, als süße Waldbeeren verkannte Tollkirschen oder Opas Herztabletten, die wie Smarties aussahen. Die Symptome dieser Akutfälle sind überschaubar: Herzrasen, Fieber, Durst, Verwirrtheit, Koma. Und immer lagen die Wirkstoffmengen im Grammbereich. Das waren Ursachen zum Anfassen.

Bei den Chemikalienkrankheiten ist das anders. Es geht um Mikro- und Nanogramm, unerbittlich rückt das Komma nach links. Die Gifte geraten aus den Augen, die Wirkung aus dem Sinn.

Auch die Vielzahl der Symptome irritiert die Ärzteschaft. Sie mag es gern monokausal. Eine Ursache macht eine Wirkung. Elektrolytmangel führt zu Herzrhythmusstörungen, Helicobacter pylori zum Ulcus. Aber ein Gift und 100 Beschwerden, das leuchtet Schulmedizinern nicht ein.

Nach solchen Erfahrungen mit der Medizin hoffen viele Betroffene auf die Justiz. Recht heilt zwar keine Krankheiten, kann aber eine Menge anderer Dinge in Ordnung bringen. Vor Gericht geht es nicht nur um den permetrinverseuchten Teppich, der durch einen unbelasteten zu ersetzen ist. Da geht es vor allem um den Ersatz der Renovierungskosten, den Verdienstausfall des erkrankten Besitzers, um die Übernahme von Heilungskosten und die Zahlung von Schmerzensgeld.

Das auf einen 100prozentigen Kausalnachweis und auf exakte Schuldbemessung fixierte Strafrecht bietet eine weitere ersehnte Perspektive: die persönliche Rehabilitation. Das Urteil des Strafrichters befreit den Betroffenen vom Makel des Ökochonders, macht aus einem Weichling ein bedauernswertes Opfer, das Solidarität beanspruchen darf.

Und schließlich gibt es noch einen rechtspolitischen Blickwinkel. Schadenersatzurteilen und Strafurteilen könnte Lenkungswirkung im Hinblick auf Produktsicherheit und Umweltverträglichkeit zukommen. Wir lachen über die Monstersummen, die in Amerika für einen toten Pudel gezahlt werden müssen. Aber dort wissen die Hersteller, wo es langgeht.

In der Hoffnung auf Gerechtigkeit setzen auch hierzulande viele Verlierer des Chemikalienpokers auf die juristische Karte; bislang allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Kaum ein Kläger gewinnt, selten führt eine Strafanzeige zum Ziel. Erst Ende Mai wurde ein Urteil des Koblenzer Oberlandesgerichts veröffentlicht, in dem die Richter die Klage einer Witwe gegen einen Zahnarzt mit der Begründung ablehnten, daß der Einsatz von Amalgam in der Regel nicht mit gesundheitlichem Risiko verbunden sei. Dabei ist längst klar, daß der Amalgam-Bestandteil Quecksilber den Menschen im wahrsten Sinne auf die Nerven geht. Bei solchen, die schlecht mit bestimmten Entgiftungsenzymen ausgestattet sind, kann es zur Marter werden. Der Ehemann der Klägerin war gar an einer Lateralsklerose, einer Krankheit, bei der bestimmte Nerven zerstört werden, gestorben.

Es stellt sich die Frage, warum die Justiz die Ansprüche der Opfer des technischen Fortschritts meist vom Tisch wischt – und das, obwohl die Betroffenen nicht weniger als das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit einklagen.

Sie will es nicht anders, sagen die einen. Obrigkeitsorientiert, wie er nun einmal ist, fühle der Justizapparat sich den Mächtigen verpflichtet, der Politik und der Wirtschaft und deren heiliger Kuh, der Marktwirtschaft. Die garantiere Massengewinn über Massenkonsum, der nur mittels kaufbarer Produkte funktioniere. Kaufbare – also billige – Produkte seien aber nicht unbedingt sichere Produkte. Schäden seien somit programmiert, im übergeordneten Interesse aber auch hinzunehmen. Und sowieso gebe es keinen Fortschritt ohne Risiko.

Ob die Justiz wirklich diese Logik – es ist die Logik der Konzerne, die nur die eigenen Gewinne sehen und die Kehrseite der Medaille ignorieren – übernommen hat? Es wäre grober Unfug, wenngleich die Justiz immer wieder für Überraschungen gut ist. Trotzdem, andere Interpretationen des justiziellen Mißstandes liegen näher.

Was soll die Justiz denn anderes machen, wird man an dieser Stelle zu ihrer Verteidigung fragen dürfen, als Klagen abzuweisen und Verfahren einzustellen, wenn schon die Ärzte bei der Ursachenforschung scheitern? Jura studiert man ja, weil es für Medizin nicht reicht.

Aber auch diese Frage greift zu kurz. Richter und Staatsanwälte sind ja nicht auf sich gestellt, sondern dürfen sich fremden Sachverstandes bedienen. Bei der Auswahl der Gutachter kann sich die Justiz Spezialisten holen, darf sich die Rosinen aus dem großen Ärztekuchen picken. Das macht sie auch. Prominente Lehrstuhlinhaber, internationale Kapazitäten, doppelt und dreifach Promovierte bevölkern die Gerichtssäle. Und trotzdem gibt es keine Gerechtigkeit für Chemikalienkranke.

Oder gerade deswegen? Vor wenigen Jahren wurde das Problem noch unter dem Begriff der käuflichen Wissenschaft gehandelt. Mittlerweile ist man deutlicher geworden und spricht von Wissenschaftskriminalität.

Zahlreiche Sachverständige begutachten einfach falsch. Sie irren nicht, sie lügen. Und sie lügen mit Kalkül, immer zugunsten des am Verfahren beteiligten wirtschaftlich Mächtigen, des Unternehmens, des Konzerns, des Herstellers. Nie zum Vorteil der kranken Kläger. Sie bestreiten den Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schaden, setzen zumindest entsprechende Zweifel in die Welt. Und die genügen, um den Prozeßerfolg des Opfers zu vereiteln.

Was die Sachverständigen da tun, ist kein Freundschaftsdienst, sondern Teil eines Geschäfts: Unwahrheit gegen Cash. Der Hintergrund dieses schlimmen Tatbestandes ist kein Geheimnis. Längst können Universitätsinstitute, Forschungsgesellschaften oder andere Wissenschaftseinrichtungen ohne den ständigen Geldstrom aus der Wirtschaft nicht mehr existieren. Der Staat gibt nur noch Peanuts. Und weil auch die immer weniger werden, gewinnen die Drittmittel, wie die Zuwendungen wertneutral heißen, ständig an Bedeutung. Die Heimstätten unserer Sachverständigen hängen am Tropf der Konzerne.

Deren Unterhaltsleistungen erfolgen ganz und gar unspektakulär und unverfänglich in Form von Forschungs- und Gutachtenaufträgen und hin und wieder auch als Spende oder Doktorandenstipendium. Dafür dürfen die Unternehmen sich etwas wünschen: günstige Expertisen. Die bekommen sie auch, ansonsten wäre die geschäftliche Beziehung gefährdet.

Keine Frage, auch für die Wirtschaft kann der Deal von existentieller Wichtigkeit sein. Wo es beispielsweise um die Verträglichkeit von Pestiziden oder die Gefährlichkeit atomarer Strahlung geht, kann ein einziger Richterspruch das Aus für eine ganze Branche bedeuten. So hätte eine rechtskräftige Verurteilung im Holzschutzmittelprozeß der Chlorchemie den Todesstoß versetzt. Trotzdem sitzen die Sachverständigen am deutlich kürzeren Hebel. Sie sind im klassischen Sinn abhängig von ihren Sponsoren.

Und Abhängige sind zu allem fähig. Im Frankfurter Verfahren um die giftigen Holzschutzmittel versuchte ein Schweizer Toxikologe die Unbedenklichkeit des Wirkstoffs PCP aus einem Fütterungsversuch an Ratten herzuleiten, indem er die Ratte zum kleinen Menschen und den Menschen zur großen Ratte uminterpretierte. Die wesentlichen Fakten unterschlug er dabei: daß in den Lasuren noch viel mehr Giftstoffe enthalten waren, daß die Geschädigten die Gifte nicht gegessen, sondern – toxikologisch viel wirksamer – eingeatmet hatten, daß das PCP des Tierversuchs im Gegensatz zu dem PCP in den Kanistern der Heimwerker von Dioxinen gereinigt worden war – und vor allem, daß die neurologisch-psychiatrischen Beschwerden der Häuslebauer mit Hilfe des fraglichen Tierversuchs gar nicht abgeklärt werden konnten.

Gibt es die Abhängigkeit von Abhängigen? Selbstverständlich, man kann ja auch einen Dieb bestehlen. Vom abhängigen Sachverständigen ist wiederum die Justiz abhängig. Die Zeiten, in denen ein Richter von allem soviel wußte, daß er ein Urteil fällen konnte, sind lange vorbei. Die hochentwickelte, arbeitswillige Gesellschaft macht praktisch jeden zum Spezialisten. Das bedeutet Ausschluß für den Rest. Die Justiz weiß wenig etwa zum Thema pseudohormoneller Wirkungen von Pestiziden. Hier und auf vielen anderen Gebieten ist sie auf Gedeih und Verderb den Sachverständigen ausgeliefert.

Nur in entsprechend gelagerten Einzelfällen kann die Justiz einmal ein Gutachten wenigstens auf Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit untersuchen. Doch nur in Ausnahmefällen, etwa bei großer Medienresonanz, nimmt sie sich die Zeit dazu. Der Normalfall sieht anders aus: Das Ergebnis des Gutachtens wird abgeschrieben und über gängige Formulierungen justizkompatibel gemacht. Der verbleibende Teil des Gutachtens wird nicht einmal gelesen. So haben die Sachverständigen leichtes Spiel.

Was wir brauchen und auch bekommen können, ist der wenn nicht gläserne, so doch wirtschaftlich transparente Sachverständige. Der seine finanziellen Verflechtungen bekannt macht und seine wirtschaftlichen Abhängigkeiten offenlegt. Der sagt, woher er seine Aufträge und sein Geld bekommt und wer sein Institut finanziert, sein Labor ausrüstet oder seinen Betriebsausflug sponsert. Und der selbstverständlich auch seine Sachkenntnis belegen kann.

Dann hat die Geheimniskrämerei ein Ende. Der Kampf mit offenem Visier ist ehrlicher und verspricht bessere Ergebnisse. Die Justiz würde Roß und Reiter kennen. Sie könnte sich allzuviel Befangenheit vom Halse halten und verbleibende Abhängigkeiten in Rechnung stellen. Das würde sie auch gern leisten.

Ein demokratisch legitimiertes Gremium sollte schleunigst mit der Bewertung und Lizenzierung der Experten beginnen. Zuvor muß die rot-grüne Regierung nur noch die Rahmenbedingungen dafür schaffen. Sie sollte die Chance nutzen, und zwar auch aus ganz egoistischen Gründen: Auf über eine Million schätzen Umweltmediziner die Zahl der Menschen, die durch Chemikalien krank geworden sind.

 

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