Justizirrtümer in den USA, 2475 verlorene Jahre, 10.09.2007

Als Dwayne Dail, 39, am Dienstag vorvergangener Woche den Gerichtssaal in Goldsboro/North Carolina betrat, hatte er Tränen im Gesicht. Später, nach der Verkündung seines Freispruchs, spielte er mit einem seltsamen Gerät, das ihm seine Schwester überlassen hatte: Vor knapp 20 Jahren – damals wurde Dail inhaftiert – waren Mobiltelefone noch unbekannt.

Das zwölfjährige Opfer einer Vergewaltigung hatte ihn als Täter identifiziert. Dass der junge Mann seine Unschuld beteuerte, nutzte ihm nichts – Urteil: lebenslang. Im Knast brachen andere Häftlinge dem angeblichen Kinderschänder die Nase und schlugen ihm die Zähne ein. Erst nach über zehn Jahren wandte er sich an eine Expertin für Wiederaufnahmeverfahren. Acht Jahre lang versuchte diese, Beweismittel ausfindig zu machen, zunächst vergeblich: Alles sei vernichtet worden, hieß es bei der Polizei. Erst vor Kurzem wurde im Nachlass eines Beamten das Nachthemd des Opfers entdeckt – mit einem Spermafleck. Die Untersuchung erbrachte: Dail konnte nicht der Verursacher gewesen sein.

Er ist der 207. US-Strafgefangene, der in den vergangenen Jahren auf Grund eines entlastenden Genvergleichs durch einen DNA-Test freigelassen wurde. Die Betroffenen haben die Hölle erlebt: falsche Beschuldigung, falsche Verurteilung zum Tod oder zu einer langen Freiheitsstrafe, dann strenge Haft.

Auf den Web-Seiten einer Hilfsorganisation werden alle Fälle beschrieben (www.innocence-project.org): eine erschütternde Lektüre – von der sich sogar der berühmte Krimiautor John Grisham dazu inspirieren ließ, einen der Unschuldigen in einem dokumentarischen Roman zu porträtieren (deutsch: „Der Gefangene“).

Schon vor Jahrzehnten waren bei Sexualverbrechen Beweismittel, vor allem Kleidungsstücke oder Abstriche mit Samenspuren, aufbewahrt worden, konnten damals aber nur unzureichend untersucht werden. Inzwischen ist es möglich, mit fast 100-prozentiger Sicherheit Übereinstimmungen festzustellen oder auszuschließen.

Das späte Glück der Unschuldigen ist gleichzeitig eine Katastrophe für die US-Justiz. Wie konnte es zu all diesen Fehlurteilen kommen? Brandon L. Garrett, ein junger Rechtsprofessor an der Virginia Law School, hat die Frage untersucht. In seiner Studie „Judging Innocence“, die im Januar nächsten Jahres in der Fachzeitschrift „Columbia Law Review“ erscheinen wird, sichtet er die 200 ersten Freilassungen – die letzte vom Mai 2007.

Die unschuldigen Häftlinge hatten 2475 Jahre ihrer Strafen verbüßt, im Durchschnitt hatte jeder etwa zwölf Jahre lang eingesessen. 14 von ihnen waren Todeskandidaten gewesen, 50 „Lebenslängliche“. 62 Prozent hatten schwarze Hautfarbe, was weit über dem ethnischen Anteil an der betreffenden Straftat liegt.

Welche Art von Beweisen führte zu den Fehlurteilen? Folgende Statistik legt Garrett vor (es ergeben sich mehr als 100 Prozent, weil oft mehrere Ursachen zusammenkamen):

In 79 Prozent der Fälle war es die Identifizierung durch einen Augenzeugen, vor allem durch das Opfer.

Bei 55 Prozent trug ein Sachbeweis zur Verurteilung bei: gleiche Blutgruppe wie der Täter, angeblich identische Haare oder gleiches Gebissprofil. All dies ist freilich nicht eindeutig. Mindestens zwei Gutachter haben zudem Material fehlinterpretiert, um Angeklagte – offenbar absichtlich – zu belasten.

In 18 Prozent der Fälle hatten Informanten, meist Gefängnisinsassen, behauptet, der Verdächtige habe ihnen gegenüber die Tat zugegeben – ein äußerst heikler Beweis. 16 Prozent der Verurteilten hatten selbst gestanden. Teils waren es geistig Zurückgebliebene (die dazu neigen, Befragern nach dem Mund zu reden), teils Angeklagte, die derart ohne Hoffnung waren, dass sie auf eine mildere Strafe spekulierten.

Doch warum irrten sich die Augenzeugen so häufig? Eine Rolle wird zunächst gespielt haben, dass es sich oft um weiße Opfer und schwarze Täter handelte. Es scheint so zu sein, dass Menschen Mitglieder einer anderen ethnischen Gruppe schwerer unterscheiden können.

Ein allgemeines Problem kommt hinzu: In vielen psychologischen Experimenten wurde nachgewiesen, dass Erinnerungen in hohem Maß anfällig für Irrtümer und Beeinflussungen sind, weil sie eng mit unbewussten Motiven verknüpft sind. Und Menschen neigen dazu, anderen gefallen zu wollen (vor allem Autoritätspersonen) – was sich anscheinend auch auf die Situation bei der klassischen Gegenüberstellung auf dem Polizeirevier auswirkt, ebenso, wenn ihnen dort Fotos gezeigt werden.

Der Zeuge will ja normalerweise der Polizei helfen (oder als Opfer den Täter bestraft wissen) und neigt dann dazu, den am ähnlichsten aussehenden Kandidaten zu identifizieren, oft ohne wirklich sicher zu sein. Später kann sich dann unter dem Druck der Öffentlichkeit oder der eigenen Psyche die falsche Einschätzung verfestigen. Oder der betreuende Polizist winkt mit dem Zaunpfahl: „Schauen Sie sich den Zweiten von links mal genauer an.“

Garrett plädiert für ein neues, von Psychologen entwickeltes Verfahren, das fairer für die Verdächtigen ist: die sogenannte doppelblind-sequenzielle Gegenüberstellung (Beschreibung unten). Einige US-Gerichtsbezirke haben sie inzwischen zwingend vorgeschrieben. Die Regeln gelten entsprechend, wenn Zeugen nur Fotos vorgelegt werden.

Weitere interessante Details aus Garretts Untersuchung:

Neben den 200 Freilassungen gibt es auch 63 Fälle, in denen ein DNA-Test die Schuld der Inhaftierten bestätigte.

In 70 Fällen von Freilassungen wurden durch Abgleiche in Gen-Datenbanken die wahren Täter ermittelt.

50 der Rehabilitierten kamen in den Genuss einer Millionenentschädigung, 32 erhielten eine geringere Summe. Alle anderen gingen bislang leer aus.

Viele mussten jahrelang auf Gerechtigkeit warten, weil Polizisten und Staatsanwälte mauerten oder vorgaben, die Beweismittel seien vernichtet oder unauffindbar. Es ist zu befürchten, dass manche durch dieses Verhalten – oder durch tatsächliche Schlampereien – um ihre Chance gebracht wurden.

Bitter ist die Vorstellung, dass Unschuldige aus anderen Tätergruppen als den Sex-Verbrechern kaum eine Chance auf ein Happy End haben. Rechnet man die Fehlerquote hoch, müsstens es Tausende sein, die zu Unrecht in Haft sind – und es auch bleiben werden.

Übrigens: Deutsche haben wenig Berechtigung, über die US-Justiz den Kopf zu schütteln. Auch hierzulande werden die allermeisten Gegenüberstellungen nach der alten, fehleranfälligen Methode durchgeführt.

US-Gefängnisse

Jeder 136. Bewohnerder USA sitzt zurzeit in Haft – die höchste Quote der Welt.

Einwohner 301 Mio.

Häftlinge 2,3 Mio.

Todes- und extrem lange Haftstrafen sollen abschrecken und die hohe Verbrechensrate senken – mit wenig sichtbarem Erfolg. Dass die Justiz nicht immer mit Sorgfalt vorgeht, haben Kritiker schon oft behauptet. Die Welle der nachträglichen Freilassungen scheint ihnen Recht zu geben.

Unschuldig in Haft – 2007 freigelassen

Larry Fuller – „Schwere Vergewaltigung“

Urteil: 50 Jahre

Hauptgrund für Fehlurteil

Bei der Vorlage von Fotos sagte das Opfer zunächst: „Der sieht ihm ziemlich ähnlich!“ Bei einer zweiten Vorlage sagte sie dann, sie sei sich sicher.

Entlastung Fullers DNA stimmte nicht mit Spermaspuren überein, die aufbewahrt worden waren.

abgesessen: 20 Jahre

Travis Hayes – „Raubmord“

Urteil: Lebenslang

Hauptgrund für Fehlurteil

Falsche Identifizierung des angeblichen Komplizen von Hayes (auch er in Wahrheit unschuldig) durch zwei Augenzeugen. Möglicherweise beim Verhör stark unter Druck gesetzt, gestand der geistig zurückgebliebene Hayes, beteiligt gewesen zu sein.

Entlastung DNA-Test von Partikeln an der Maske des Räubers

abgesessen: 8 Jahre

Gregory Wallis – „Vergewaltigung“

Urteil: 50 Jahre

Hauptgrund für Fehlurteil

Falsche Identifizierung durch das Opfer bei einer Foto-Vorlage

Entlastung DNA-Test von Sperma und Zigarettenstummeln. Ein erster Test erbrachte eine Chance von 1:452, dass Wallis der Täter war. Der lehnte den Deal ab, auf Bewährung entlassen zu werden. Eine zweite Untersuchung entlastete ihn ganz.

abgesessen: 17 Jahre

Willie Williams – „Entführung, Vergewaltigung“

Urteil: 45 Jahre

Hauptgrund für Fehlurteil

Falsche Identifizierung durch beide Opfer auf Fotos und später im Prozess

Entlastung DNA-Test von Spermaspuren erbrachte in beiden Fällen keine Übereinstimmung.

abgesessen: 21,5 Jahre

Curtis Mccarty – „Sexualmord“

Urteil: Tod

Hauptgrund für Fehlurteil

Absichtlich falsches Gutachten einer Polizeichemikerin und Unterdrückung von Entlastungsmaterial durch den Staatsanwalt

Entlastung Die Chemikerin war wegen anderer Fälle in Verdacht geraten. Tests von Sperma sowie von Partikeln unter den Fingernägeln des Opfers erbrachten keine Übereinstimmung.

abgesessen: 21 Jahre

Psycho-Falle Gegenüberstellung: Warum sie problematisch ist

Nachteile des alten Verfahrens

Der Polizeibeamte kann absichtlich oder unbewusst Hinweise geben.

Weil sich der Augenzeuge unter Druck fühlt, die Polizei nicht zu enttäuschen, neigt er dazu, die Person zu identifizieren, die dem Täter in seiner Erinnerung am ähnlichsten sieht. Die muss aber nicht der Gesuchte sein.

Vorteile des neuen Verfahrens

Beeinflussungen durch die Polizei werden erschwert.

Der Augenzeuge muss sich sicher sein. Identifiziert er eine Füllperson, ist klar, dass er den Täter nicht gut genug gesehen hat – selbst wenn er den Verdächtigen dadurch gar nicht erst zu Gesicht bekommt.

Bisher: Klassische Gegenüberstellung

Der Verdächtige und mehrere unverdächtige „Füllpersonen“ treten gleichzeitig auf.

Augenzeuge

Polizist kennt den Verdächtigen.

einseitig durchsichtige Scheibe

Besser: Sequenzielle Gegenüberstellung

Der Verdächtige und die „Füllpersonen“ treten einzeln, nacheinander und in zufälliger Reihenfolge auf.

Augenzeuge weiß nicht, wie viele Personen er zu sehen bekommt. Muss bei jedem unwiderruflich mit Ja oder Nein antworten. Bei Ja wird die Gegenüberstellung beendet.

Polizist kennt den Verdächtigen nicht.

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