Lange Prozesse in Deutschland:Ein Urteil nach 29 Jahren, sueddeutsche.de, 08.04.2010
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Deutschland 58 Mal wegen überlanger Gerichtsverfahren verurteilt. Sechs erschütternde Beispiele für die Trägheit der Justiz.
Im Juli 1997 erreichte die Strenge der Straßburger Richter sogar das Bundesverfassungsgericht. In einem Fall benötigten die Karlsruher Richter sieben Jahre und vier Monate, in einem weiteren fünf Jahre und drei Monate, um über die Rechte von Kleingärtnern zu entscheiden; es ging um die Pachtverhältnise ihrer Schrebergärten. Der Gerichtshof sprach den Beschwerdeführern jeweils 15.000 Mark an Entschädigung zu. Kleiner Schönheitsfehler: Der EGMR benötigte für seine Urteile fast genauso lang – sieben und fünf Jahre.
…Das Verfahren dauerte allein vor dem Amtsgericht knapp fünfeinhalb Jahre, mehrfach vermerkten die zuständigen Amtsrichter in den Akten, dass es ihnen wegen gestiegener Arbeitsbelastung nicht möglich sei, das Verfahren voranzutreiben. Der Kläger reagierte mit Dienstaufsichts- und Untätigkeitsbeschwerden.
…Er war im Jahr 1987 unter dem Vorwurf des Betrugs ins Visier der Ermittler geraten, doch bis zur Rechtskraft eines Freispruchs sollten 15 Jahre vergehen. Allein die Ermittlungen zogen sich mehr als sieben Jahre hin, von der Anklage im Juli 1994 bis zum Verhandlungsbeginn vergingen weitere viereinhalb Jahre.
…Ein Schadensersatzprozess gegen einen Fahrradfahrer, der ihn 1982 angefahren hatte, zog sich seit 1989 hin. Allein der Streit über die Höhe des Schadensersatzes schwelte seit 1994 und war beim Urteil noch nicht beendet. Beim Bundesverfassungsgericht hatte S. keinen Erfolg gehabt.
…Manchmal benötigt man für zwei Jahre nur zwei Sätze. So wie im Fall einer Klägerin aus dem Raum Würzburg, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) vergangenen Herbst einen Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland gewann, weil sich ihr Rechtsstreit um eine Hinterbliebenenrente mehr als 18 Jahre hingezogen hatte.
… Jürgen Gräßer könnte – nolens, volens – so jemand sein. Er erstritt im Oktober 2006 beim EGMR eine Summe von 45.000 Euro – weil sein Verfahren fast 29 Jahre gedauert hat. Der einstige Autorennfahrer wollte Anfang der 70er Jahre einen Supermarkt bauen, der aber nach der Kommunalwahl von 1974 offenbar nicht mehr opportun war, jedenfalls hob die Stadt Saarbrücken die Erschließungskosten von 2,5 auf 4,5 Millionen Mark an. Das Projekt scheiterte, Gräßer klagte auf Schadensersatz.