Im Revisionsprozess ist es oft schon zu spät, Focus online money, 01.06.2014
Das Gericht übersieht wichtige Details, der Pflichtverteidiger ist schlecht vorbereitet – und schon wird ein Urteil gesprochen, dass die schlimmsten Albträume des Angeklagten wahr macht. Dann bleibt nur die Hoffnung auf die Revision. Doch deren Mittel werden oft überschätzt.
Nach dieser Anzeige gibt es kein Halten mehr. Der Stein rollt den steilen Hang hinunter und reißt meist alles mit, was sich ihm den Weg stellt: Skeptische Polizeibeamte, die der Anzeige misstrauen? Gibt es kaum. Im Gegenteil: Häufig werden in diesen Vernehmungen die Tatbestandsmerkmale mit der Hilfe der Polizei erst fein säuberlich herausgearbeitet. Kritische Staatsanwälte: Wenn Sie Glück haben.
In der Regel folgen die Staatsanwaltschaften den Abschlussvermerken der Polizeibeamten. Jenen also, die in langer Vernehmung und Hand in Hand mit der Belastungszeugin einen anklagefähigen Sachverhalt erst produziert haben. Die folgende Anklage vor dem Landgericht perpetuiert den Vorwurf. Das Gericht eröffnet das Hauptverfahren. Eine erste Entscheidung des Gerichts fällt zu Ihren Lasten as. Sie sind immer noch der Auffassung, dass es sich um ein großes Missverständnis handeln muss: Es wird sich sicher alles in der Gerichtverhandlung aufklären. Einen Verteidiger wählen Sie nicht selbst. Sie schaffen das auch so. Das Gericht wird ihnen glauben. Denken Sie. Also ordnet das Gericht Ihnen einen Rechtsanwalt bei. Bei derart gravierenden Vorwürfen muss ein Verteidiger mitwirken (§ 140 I Nr. 2 Strafprozessordnung (StPO)).
Ihr Pflichtverteidiger? Ist – in diesem schlimmen Fall – kaum vorbereitet. Alle kritischen Momente und Widersprüche der Belastungsaussage lässt dieser ebenso wie das Gericht unkommentiert. Eine Falschaussage der Belastungszeugin? Undenkbar: Hierfür fehlt ein nachvollziehbares Motiv. Anträge werden von Ihrem Verteidiger nicht gestellt. Sie werden verurteilt. Zu einer nicht mehr bewährungsfähigen Freiheitsstrafe.
Nun hoffen Sie auf Ihr einziges Rechtsmittel, welches Ihnen nach einer Verhandlung vor dem Landgericht zusteht. Die Revision.
Das Revisionsgericht prüft lediglich, ob das Urteil materiell-rechtlich richtig ist und verfahrensrechtlich ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Die Revision ist ein rein formales Verfahren. Insofern ist nach wie vor die Frage, „wie es gewesen ist“, nicht Sache des Revisionsrichters. Nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen kommt es zu einer Revisionshauptverhandlung. Auch hier werden nicht Tatsachen, sondern lediglich Rechtsfragen erörtert. Eine Belastungsaussage wird hier nicht erneut aufgenommen. Überprüft wird sie vom Revisionsgericht nur darauf, ob sie vom Tatgericht fehlerfrei gewürdigt wurde.
Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Verteidigungsaktivitäten in der Hauptverhandlung vor dem Landgericht die Erfolgsaussichten der Revision maßgeblich mitbestimmen. Sofern der Verteidiger in der Hauptverhandlung keine (Beweis-) Anträge gestellt hat, die das Landgericht hätte fehlerhaft bescheiden können, sofern kein Widerspruch gegen Beweisverwertungen erhoben oder kein Gerichtsbeschluss herbeigeführt wurde, fällt es auch dem fähigsten Revisionsverteidiger schwer, formelle Fehler des tatgerichtlichen Urteils zu rügen. Ganz einfach deswegen, weil das Landgericht unter diesen Vorrausetzungen nicht erst in die Verlegenheit kommt, fehlerhaft zu entscheiden.
…Wichtig ist ferner, dass vor dem Landgericht im Gegensatz zur amtsgerichtlichen Verhandlung kein Wortprotokoll geführt wird. Alles, was der womöglich einzige Belastungszeuge sagt, bleibt der Interpretation des Landgerichts vorbehalten. Die Aussage des Belastungszeugen selbst ist nicht angreifbar, auch wenn bereits von der Polizei aufgenommene Aussagen einen völlig anderen Inhalt haben. Strafverteidiger berichten insofern bei Kenntnisnahme der Urteilsbegründung immer wieder von dem Gefühl, sich im falschen Film befunden zu haben, weil sämtliche kritische Momente der Belastungsaussagen entweder ignoriert oder toleriert werden.
Wird der Angeklagte also mit dem Vorwurf konfrontiert, eine andere Person – meistens eine Frau – vergewaltigt zu haben und existieren keine weiteren Beweismittel, ist er dem Wohl und Wehe des Gerichts überlassen. Hat er keinen engagierten Strafverteidiger, der bei bestreitender Einlassung auf die Defizite der Belastungsaussage aufmerksam macht und sieht er sich nicht einer erfahrenen Strafkammer gegenüber, die entsprechende Defizite und Widersprüche zu würdigen weiß, kann er seiner Existenz beraubt werden.
Sieht der Angeklagte sich einer falschen Verdächtigung gegenüber, folgt das Gericht dem Vortrag des Belastungszeugen und hat der Verteidiger vor dem Landgericht keinerlei Aktivität entfaltet, kann dem Angeklagten das Rechtsmittel der Revision im Strafrecht nicht mehr als einen vagen Hoffnungsschimmer bieten. Der Autor eines bekannten Buches über die Verteidigung im Revisionsverfahren meint, dass das Rechtsmittel der Revision nur in 3 % aller Fälle Erfolg hat und also zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils führt. Dies meint die Erfolgsquote aller eingelegten Revisionen und nicht nur die von Sexualdelikten in der Konstellation „Aussage gegen Aussage“. In dieser Konstellation sind die Anforderungen an die Beweiswürdigung des Tatgerichts zwar erhöht, dennoch bleibt auch hier der Revision der Erfolg häufig versagt. Dies liegt nach Meinung des Autors zwar auch daran, dass die Verteidiger das Rechtsmittel der Revision entweder nicht ernst nehmen und entsprechend vortragen, oder ihnen schlicht die Kompetenz fehlt, Verfahrensrügen sachgerecht zu begründen. Gerade das beinhaltet aber einen Aspekt der oben angesprochenen Gefahr: dass der Angeklagte mit dem einzigen Rechtsmittel, welches ihm gegen landgerichtliche Urteile zur Verfügung steht, viel zu sehr auf die Kompetenz der professionellen Verfahrensbeteiligten angewiesen ist. Weisen diese die entsprechende Kompetenz nicht auf, kann er in einer zweiten Tatsacheninstanz nicht auf mehr Sachverstand bauen, weil ihm diese nicht gewährt wird.
Reformüberlegungen gehen z.B. dahin, auch am Landgericht ein Wortprotokoll einzuführen oder die gesamte Verhandlung sogar per Videoaufnahmen zu dokumentieren, um so zu verhindern, dass die Überprüfung der Aussagen der Belastungszeugen durch das Revisionsgericht von vorneherein vereitelt ist.
Überlegenswerte Bestrebungen, die für den Angeklagten gerade in der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ ein Stück mehr Sicherheit bedeuten würden. In Verfahren also, in denen das Damoklesschwert der Gefängnisstrafe und damit der (zumindest vorübergehenden) Vernichtung der gesellschaftlichen Existenz von Anfang an über ihnen schwebt.
Ein tatrichterliches Urteil ist nicht schon deshalb ein wahres und gerechtes Urteil, weil es sich durch eine Entscheidung des Revisionsgerichts rechtskräftig geworden ist. Anders ausgedrückt: Ein Tatrichter kann auch Fehlurteile „revisionsfest“ begründen.
Diese Feststellung, von einem anderen Autor eines Lehrbuchs für die Revision in Strafsachen, ist eines Rechtsstaates unwürdig.