Präzedenzfall in der Justiz Ein Rüffel beunruhigt die Richter, Stuttgarter Zeitung, 13.10.203
Das Vorgehen der Karlsruher OLG-Präsidentin gegen einen zu langsamen Richter verunsichert den Berufsstand: Droht bald überall solcher Druck?
Mit seiner Gerichtspräsidentin Christine Hügel hat der Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe Thomas S. eines gemein: über beiden schwebt, in der gleichen Angelegenheit, jeweils eine Art Damoklesschwert. Trifft es ihn, kann sie aufatmen, bleibt er verschont, muss sie zittern.
Das Damoklesschwert über Thomas S. ist eine bundesweit wohl einmalige Ermahnung durch Hügel. Die OLG-Präsidentin hatte ihm vorgehalten, er arbeite zu langsam und bleibe deshalb „ganz erheblich“ hinter dem Durchschnittspensum seiner Kollegen zurück. Dadurch werde der Anspruch der Bürger unterhöhlt, in angemessener Zeit Rechtsschutz zu erhalten. Fortan, verlangte die Chefin, solle S. seine Fälle „ordnungsgemäß und unverzögert“ erledigen. Hat der Rüffel vor der Dienstgerichtsbarkeit Bestand und ändert der Richter seine Arbeitsweise nicht, droht ihm ein Disziplinarverfahren, womöglich mit Geldbuße und Gehaltskürzung.
Das Damoklesschwert über Hügel ist eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die S. daraufhin beim Stuttgarter Justizministerium gegen sie erhoben hat. Ihr Vorgehen sei ein beispielloser „Angriff auf die richterliche Unabhängigkeit“, empört er sich. Er solle dazu angehalten werden, weniger gründlich und sorgfältig zu arbeiten. Dabei müsse jeder Richter selbst entscheiden, welchen Aufwand er im Einzelfall für notwendig halte. Sollte der Rüffel von den Dienstgerichten kassiert werden, droht der OLG-Chefin ihrerseits ein Disziplinarverfahren – ebenfalls mit weitreichenden Folgen. …
Die ersten Äußerungen aus dem Ressort von Rainer Stickelberger (SPD) klangen noch so, als ob das Ministerium voll hinter der Gerichtspräsidentin stehe. Den Aufsatz eines Rechtsprofessors, der scharf mit ihr ins Gericht ging und Thomas S. bestärkte, kommentierte es eher kritisch. …