Psychiater als heimliche Strafrichter, Neue Zürcher Zeitung, 25.04.2013
Die «Sicherheitsgesellschaft» verlangt von der Strafjustiz und vom Strafvollzug nicht mehr nur die Aufarbeitung vergangener, sondern zunehmend auch die sichere Verhinderung künftiger Taten. Diese Erwartung ist schon deshalb nicht erfüllbar, weil sie hellseherische Fähigkeiten voraussetzt. Wohl gerade aus diesem Grund zieht die Justiz in Strafverfahren und im Strafvollzug zur Legitimation ihrer Prognosen zunehmend psychiatrische Gutachten bei; in aller Regel wird dabei nur ein Gutachten in Auftrag gegeben.
Von gutachterlichen Empfehlungen wird nach der bisher konstanten bundesgerichtlichen Rechtsprechung grundsätzlich nicht ohne Not abgewichen.
Es findet weitgehend eine Verantwortungsdelegation von der Justiz an die Psychiatrie statt: Inhaltlich fällt oft der Sachverständige die Entscheidung, während formal das Gericht Entscheidungsträgerin bleibt und an die Beurteilung des Gutachtens eigentümlich «halbgebunden» ist. Damit hängen in Strafverfahren die Schuldfrage und die Rechtsfolge sowie im Strafvollzug die Frage der Entlassung beispielsweise aus einer stationären Massnahme (psychiatrische Behandlung) – besonders in Grenzfällen – von der wertungsbeladenden psychiatrischen Auffassung meist lediglich eines Sachverständigen ab.
Sie sind damit oft nicht mehr das Ergebnis der sorgfältigen Abwägung einer Mehrzahl von demokratisch legitimierten Richtern; und auch der garantierte Rechtsmittelzug wird dadurch im Ergebnis unterlaufen. Die Praxis, nicht ohne Not von psychiatrischen Gutachten abzuweichen, geht von der Annahme aus, dass Gutachten objektiv wahr und richtig sind.
Aufgrund der stark normativen Färbung und der grossen Fehleranfälligkeit solcher Expertisen wären ein kritischerer Umgang und eine strenge Überprüfung der Plausibilität der gutachterlichen Schlussfolgerungen angezeigt. Es hängt stark von der wissenschaftlichen und politischen Provenienz sowie der Persönlichkeit des psychiatrischen Sachverständigen ab, was als Resultat einer Expertise herauskommt.
Und Studien belegen immer wieder, dass gerade Prognosen in psychiatrischen Gutachten mit grösster Vorsicht zu geniessen sind. Daher dürfte die Meinung eines Experten in der Strafjustiz nicht mehr so sakrosankt sein, wie es heute der Fall ist; solche normativen Expertisen müssten lediglich als Hilfsmittel einer unvoreingenommenen richterlichen Entscheidungsfindung angesehen werden.
Die Delegation der Entscheidungsgewalt an die Gutachter ist rechtsstaatlich bedenklich, sind doch die Kompetenzen und Aufgaben dieser Experten nicht ausreichend klar gesetzlich geregelt und begrenzt. Das «psychiatrische Gutachten im Strafverfahren» ist derzeit strafprozessual unter dem Globaltitel des «Sachverständigen» geregelt. Spezialnormen für diese spezifische und mit Blick auf die Urteilsfindung entscheidende Begutachtung existieren nicht. Die gesetzliche Lösung ist demnach sehr knapp und rudimentär gehalten, und Zentrales wird dem Wildwuchs der Praxis überlassen. Eine (gesetzliche) Klärung dieser Fragen täte not, handelt es sich bei der Organisation und den Zuständigkeiten der faktischen Entscheidungsträger in Strafverfahren doch um eine zentrale prozessuale Machtfrage und damit um eine solche genuin (rechts)politischer Natur; dies bedarf im Rechtsstaat der Regelung in einem formellen Gesetz.
Besonders bedenklich ist, dass heute die Entstehung der Expertise kaum nachvollziehbar ist. Sachverständige sind beispielsweise bei ihren Untersuchungen nicht verpflichtet, das sonst in Strafverfahren mittlerweile übliche Wortprotokoll zu führen. Gespräche zwischen Experte und Explorand werden weder auf Video noch auf Tonband aufgenommen. Der Verteidigung ist es nach der bisherigen Rechtsprechung verwehrt, an diesen Sitzungen dabei zu sein und ihrer Kernaufgabe der Kontrolle nachzukommen. Zur späteren Überprüfung der Korrektheit von Gutachten bedürfte die Verteidigung oft der second opinion eines Privatgutachters, da sonst die Qualität einer offiziellen Expertise nur erschwert eingeschätzt werden kann. …