Auslegung der Menschrechte, Neue Zürcher Zeitung, 10.02.2012
Bundesrichterin Brigitte Pfiffner und Bundesgerichtsschreiberin Susanne Bollinger werfen dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg
vor, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) «ausufernd» zu interpretieren.
Als Beispiel führen sie u. a. die Rechtsprechung des Gerichtshofes
an, mit welcher Ansprüche gegenüber Sozialversicherungen als «zivilrechtliche Ansprüche» im Sinne von Artikel 6 EMRK gewertet worden sind, wie das im ersten Urteil in der Sache Schuler-Zgraggen gegen die Schweiz der Fall war.
Gerade in diesem Fall ging es um eine von Männern begangene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und die darauf gestützte Vorenthaltung von Invalidenrenten und Invaliden-Kinderrenten sowie Zinsen im Umfang von rund 250 000 Franken durch das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht.
Nun wollten die Schöpfer der EMRK ein «lebendiges Instrument» zur Wahrung
und Entwicklung der Menschenrechte schaffen.
Es erscheint deshalb unfair, dem Gerichtshof vorzuwerfen, dass er diesen Auftrag der EMRK und damit der Staaten, die ihr zugestimmt haben, ernst genommen hat. Wohl ist der Umstand, dass sich in Strassburgmittlerweile 151 600 unerledigte Beschwerden türmen und Jahr für Jahr 50 000 Beschwerden neu eingehen, unerfreulich.
Dafür ist jedoch nicht der Gerichtshof verantwortlich, sondern es sind die Regierungen der 47 Europaratsstaaten. Ihnen ist es bisher nicht gelungen, dafür zu sorgen, dass in jenen Ländern, aus welchen die meisten der Beschwerden stammen, sich die Verhältnisse rasch verbessern.
Dass der Gerichtshof mit der Zunahmenicht Schritt halten konnte, auch dafür sind die Regierungen verantwortlich: Sie bewilligen dem Europarat nicht die notwendigen Mittel, damit diese bedeutende Institution ihre Aufgabe in einem Gerichtssprengel von 800 Millionen Menschen innerhalb nützlicher Frist erfüllen könnte.
Doch darüber sei niemand erstaunt:
In Menschenrechtsfragen sind die Regierungen die Rechtsbrecher, und wenn Rechtsbrecher die Budgets für die Gerichte bestimmen dürfen, muss das Ganze aus dem Ruder laufen. Zu überlegen wäre deshalb, ob künftig nicht die Parlamente der Europaratsstaaten für die Budgetfrage des Europarates zuständig
erklärt werden sollten.
Ludwig A. Minelli, Forch