Justiz gerät ins Zwielicht, Sueddeutsche Zeitung, 10.05.2010
Es war eine seltsame Szene, die sich mehrmals die Woche im Keller des Nürnberger Justizpalastes abspielte. Mit schöner Regelmäßigkeit, bevorzugt dienstags und donnerstags, trug der Justizangestellte Hartmut Steiner (Name geändert) ohne erkennbaren Sinn und Zweck ein und denselben Karton zwischen dem Asservatenraum S 16 und seinem Büro S 23 hin und her. Kollegen wunderten sich über das merkwürdige Verhalten. Irgendetwas sei da faul, vermuteten sie und informierten Vorgesetzte.
Doch Steiner schleppte noch Monate lang unbehelligt seinen Karton. Schließlich gingen zwei Kollegen auf eigene Faust der Sache auf den Grund. Mitte Juli 2007 rissen sie das Klebeband von dem Karton und brachten so einen für die Nürnberger Staatsanwaltschaft peinlichen Vorgang ans Tageslicht.
Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung wurde über Jahre hinweg aus der Asservatenkammer der Anklagebehörde Bargeld gestohlen, das die Polizei Tatverdächtigen abgenommen hatte und das als Beweismittel im Panzerschrank hätte aufbewahrt werden müssen. Alle Kontrollmechanismen scheinen versagt zu haben.
Zudem offenbart der Fall eine in der Justiz besonders brisante Mischung aus Schlamperei sowie mangelnder Dienstaufsicht und Fürsorge gegenüber Mitarbeitern. Drei Kuverts lagen in Steiners Karton. Zwei davon waren leer, im dritten befanden sich 35 Euro. Ihrer Beschriftung nach hätten die Umschläge 5000, 650 und 85 Euro enthalten müssen. Das Geld war ebenso wie Handys und andere Gegenstände mutmaßlichen Drogenhändlern am 23. August 2006 abgenommen worden.
Doch “die gesamten übernommenen Gegenstände wurden nicht asserviert”, heißt es in einem der SZ vorliegenden internen Aktenvermerk der Staatsanwaltschaft. Fast ein Jahr lang fiel das niemandem auf. Das Amtsgericht Nürnberg stellte später fest, dass Hartmut Steiner zwischen Dezember 2004 und Juli 2007 insgesamt 6771,80 Euro aus der Asservatenkammer gestohlen hat.
Der für die Anklagebehörde unangenehme Fall wurde ebenso schnell wie diskret zu den Akten gelegt. Steiner unterschrieb einen Auflösungsvertrag und schied demgemäß zum 31. August 2007 “auf eigenen Wunsch aus dem Dienst des Freistaates aus”, wie es hieß.
Das Amtsgericht Nürnberg verhandelte den Fall nicht öffentlich, sondern verurteilte Steiner per Strafbefehl am 8. Januar 2008 zu einer inzwischen rechtskräftigen Freiheitsstrafe von neun Monaten, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Nürnberger Justizsprecher Andreas Quentin bestätigte den Vorgang auf Anfrage. Er spricht von einem Einzelfall. “Es sind keine weiteren Diebstähle bekannt geworden”, sagt er. Bei “einer umfassenden Überprüfung der Bargeldverwahrung in der Asservatenkammer” durch das staatliche Rechnungsprüfungsamt seien “keine weiteren Unregelmäßigkeiten festgestellt worden”, so Quentin.
Die Nürnberger Kripo scheint sich da nicht so sicher zu sein. In ihrem abschließenden Ermittlungsbericht warnt sie ausdrücklich:”Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschuldigte weitere Diebstähle aus Asservaten verübt hat. Eine vollständige Überprüfung aller bei der Staatsanwaltschaft angenommenen Asservate für den zurückliegenden Zeitraum bis 2004 ist wegen des enormen Umfangs nicht möglich.”
Doch auch unabhängig davon liefert der Fall Hinweise auf haarsträubende Versäumnisse. Erst zwölf Tage, nachdem der Bargeldklau aufgeflogen war, wurde der verschlossene Schreibtisch Steiners durchsucht – nicht von neutralen Ermittlern, sondern von der Leiterin der Asservatenkammer. Sie fand dort Akten zu fünf Verfahren, bei denen keine Asservate registriert waren.
Bei einer Ermittlungsakte (Az 356 Js 9226/05) handelte es sich um ein Original, das hausintern seit mehr als zwei Jahren als verschwunden galt. Dabei wies ihre letzte Spur eindeutig in die Asservatenkammer. Dorthin war die Akte nämlich im April 2005 geschickt worden mit der Bitte, den Verbleib von im Zuge der Ermittlungen beschlagnahmtem Bargeld aufzuklären. Auf die Idee, in der Asservatenkammer intensiv nach Akte und Bargeld zu suchen, kam seither offenkundig niemand.
Zeugenaussagen von Kollegen Steiners werfen zudem die Frage auf, wie es im Nürnberger Justizpalast um die Dienstaufsicht und die Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitern bestellt ist. Zwei Angestellte gaben an, bereits ein halbes Jahr vor dem Auffliegen des Geldklaus einen flüchtigen Blick in den Karton geworfen und dort zwei Ermittlungsakten entdeckt zu haben. Umgehend hätten sie darüber die Leiterin der Asservatenkammer informiert, die versprochen habe, sich darum zu kümmern. …