Zeugenaussagen zu 50% unzuverlässig, Ehrenleute wie Richter sind nicht deshalb glaubhaft, weil diese angesehen sind. Ganz im Gegenteil.

Der Wahrheit auf der Spur… Tatsachenfeststellung vor Gericht

Nirgends wird so erbittert gestritten wie vor Gericht. Klar, denn es geht ja auch um eine ganze Menge. Nicht selten steht die Existenz auf dem Spiel. Da ist die Verlockung groß, den Richtern eine Lügengeschichte zu präsentieren. Und die fallen oft genug darauf rein: Die Kunst, Aussagen auf ihre Zuverlässigkeit hin zu überprüfen, die wird an den Unis stiefmütterlich behandelt. Und dabei ist die Tatsachenfeststellung vor Gericht doch mindestens ebensowichtig wie das Jonglieren mit Paragraphen.
In der kommenden dreiviertel Stunde werden Sie von renommierten Richtern mehr über die Aussagepsychologie erfahren: Woran man Irrtümer erkennt und wie sich Lügenkomplotte aufdecken lassen: Der Wahrheit auf der Spur. Eine Sendung von Gerhard Wahle: 

Wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind! So kann man sie erkennen!

Der Sachverhalt wird vor Gericht hauptsächlich durch Befragung von Zeugen festgestellt. Aber: Der Mensch ist nicht so, wie ihn sich die Juristen wünschen: er nimmt nur die wenigsten Dinge wahr und ist vergeßlich. Und: ab und an fehlt ihm die Wahrheitsliebe. Armin Nack, Richter am Bundesgerichtshof und Lehrbuchautor:

“Der Mensch ist, soweit er als Zeuge auftritt, biologisch natürlich eine Fehlkonstruktion.”

Zur richtigen Zeugenaussage muß der Mensch das Ereignis erst mal richtig wahrgenommen haben, er muß sich gut daran erinnern können und er muß es so schildern, daß in den Köpfen der Richter das gleiche Bild entsteht. Überall treten – ganz natürlich – Fehler auf. Und dennoch: Das Vertrauen der Richter in die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen scheint unerschütterlich. Axel Wendler, Richter am Landgericht Stuttgart:

“Wir haben einmal untersucht, wie gehen Zivilverfahren aus, wenn eine Partei einen Zeugen oder eine Zeugin vorweisen kann und die andere nicht. Da hat sich herausgestellt, daß in 95 % aller Fälle die Partei, die den Zeugen hatte, auch den Prozeßsieg davongetragen hat. Das kann sicherlich so nicht zutreffend gewesen sein. Die Zahl allein ist schon aussagekräftig. Wir haben dann aber in einem zweiten Schritt noch weiter untersucht, und dadurch wird das ganze noch spektakulärer: Wie geht es aus, wenn beide Parteien einen Zeugen oder eine Zeugin haben und die sagen das Gegenteil aus – es ist also offensichtlich, daß eine der Seiten die Unwahrheit sagt – und da haben die Gerichte eine sehr hohe Tendenz, nach Beweislast zu entscheiden, sich also nicht festzulegen. Und nun war es sehr spektakulär: Es gab nämlich keinen einzigen Fall, in dem sich eine Kammer des Landgerichts Stuttgart in dieser Untersuchung zugetraut hätte, für die eine oder andere Seite Partei zu erfreifen, sondern es wurde immer wieder geschrieben: Beide Zeugen oder Zeuginnen seien gleich glaubwürdig.”

Die Richter sind nicht gut genug geschult, Aussagen auf ihre Zuverlässigkeit hin zu überprüfen, sagt Axel Wendler vom Landgericht Stuttgart. Deshalb reist der Strafrechtler durch ganz Deutschland, hält Fortbildungsseminare für Richter und den juristischen Nachwuchs. Die wichtigste Botschaft: Man soll nicht davon ausgehen, daß die Auskunftsperson die Wahrheit sagt:

“Mindestens die Hälfte aller Aussagen vor Gericht sind unzuverlässig. Einmal weil sie auf absichlichen Verzerrungen – der Lüge – beruhen und zum anderen, weil es sich um Irrtümer – um unbewußte Fehler handelt. Weil das so ist, daß mindestens 50 % aller Aussagen falsch sind, deswegen kann man einer Aussage immer nur eine Anfangswahrscheinlichkeit für ihre Zuverlässigkeit von 50 % geben.”

Jede Auskunftsperson hat also sozusagen 50 Glaubwürdigkeitspunkte. Und nun sucht Axel Wendler nach Anhaltspunkten, die für und die gegen die Zuverlässigkeit der Aussage sprechen. Jedes der sogenannten Realitätskriterien gibt Plus-, jedes Warnsignal gibt Minuspunkte. Am Ende kann dann die Aussage gewürdigt werden.
Das wichtigste Realitätskriterium ist die Schilderung von Details. Denn: Eine Lügengeschichte ist karg. Bundesrichter Armin Nack:

“Ich will es mal ganz drastisch ausdrücken: Der Lügner ist eigentlich ein armes Schwein. Man muß regelrecht Mitleid mit ihm haben vor seiner schweren Aufgabe und die meisten Lügner sind auch wirklich blutige Amateure. Sie lügen verdammt schlecht. Der Lügner hat ja wenige Anhaltspunkte für das, was er bringen soll. Er muß sich vorbereiten, wenn er überhaupt Zeit dafür hat, er muß viel Phantasie aufbringen und weiß nicht, welche Fragen an ihn gestellt werden. Andererseits darf er nicht soviel Aussagen detailliert machen, daß man ihm nachweisen kann, daß er lügt. Er ist also in dem Dilemma, einerseits Details bringen zu müssen, andererseits aber nicht zuviel Details bringen zu dürfen, um ihn nicht der Lüge zu überführen. Das ist das sogenannte Lügendilemma.”

Deshalb ist für die Aussageanalyse all das interessant, was in einer wahren Aussagen zu erwarten wäre. Psychologe Max Steller vom Institut für forensische Psychiatrie in Berlin:

“Wenn jemand etwas erfindet, dann muß er auf der Handlungsebene ja was schildern: Der hat das gemacht, der hat das gemacht. Aber der lügende Zeuge denkt vielleicht nicht daran, Gefühlsschilderungen, Gedankenschilderungen, Schilderungen von Handlungsabbrüchen, Komplikationsschilderungen vorzunehmen.”

Die Komplikationsschilderungen sprechen schon deshalb für die Zuverläsigkeit der Aussage, weil das Leben eben voller Probleme steckt, aber kaum ein Lügner bietet Details von aufgetretenen Schwierigkeiten an – die wären ja wieder überprüfbar. Bundesrichter Armin Nack mit einem Beispiel zum Merkmal der Komplikation:

„Zwei Männer überfallen einen anderen Mann in dessen Wohnung und wollen ihn umbringen. Das Opfer berichtet davon, wie man versucht hat, ihn in die Badewanne zu legen, um ihn in der Badewanne mit dem Fön zu töten. Er berichtet Details: Sie ließen die Badewanne vollaufen mit lauwarmen Wasser – auch das ein Detail, das jemand, der nur eine Lügengeschichte erzählen würde, nicht erfunden haben könnte – dann stellen sie den Fön auf die höchste Stufe – auch das wieder ein Detail – dann wollen sie den Fön in die Badewanne werfen, aber leider reicht das Kabel nicht bis zur Wanne. Dann sucht man ein Verlängerungskabel… und so geht das weiter. ”

Man kann fast sagen: Je ungewöhnlicher die Geschichte scheint, desto glaubhafter ist sie. Denn ein Lügner wird eher unspektakuläre Geschichten auftischen; Ganz einfach: weil scheinbar „Absurdes“ unrealistisch wirkt. So wie die Aussage eines Opfers, das in der eigenen Wohnung überfallen wurde. Nochmal Armin Nack:

“Das Opfer hatte ein Spielzeugauto, ein Polizeiauto in seinem Schrank, und durch die Erschütterung, durch die Schläge, die es bekommen hat, hat sich das Auto plötzlich bewegt und es ging die Polizeisirene von dem Spielzeugauto los. Die Täter glaubten, es sei ein echtes Polizeifahrzeug und flüchteten. Also sowas kann man nicht erfunden haben, das muß tatsächlich so passiert sein. So ein originelles Beispiel spricht einfach für die Lebensnähe.”

Und für die Lebensnähe sprechen auch Gefühlsäußerungen – oder auch die Art der Schilderung. Wenn ein sexuell mißbrauchtes Kind etwa in seiner eigenen kindlichen Sprache die Tat beschreibt. Oder auch wenn das Opfer den Täter entlastet – von einem böswilligen Lügner wäre das nicht zu erwarten. Armin Nack mit einem Beispiel:

“Eine Frau, die vergewaltigt worden ist, schildert, wie der Täter zu ihr gesagt hat: Wenn du keinen Orgasmus hast, dann mach ich dir ein Kind. ‘Und als er dann zum Orgasmus kam’, schildert die Frau, ‘dann ist er doch aus ihr herausgegangen, hat also sie nicht der Gefahr der Schwangerschaft ausgesetzt.‘ Sie hat ihn auch ein Stück weit, obwohl ja die Äußerung des Täters viel weiterging, entlastet. Diese Entlastung spricht für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage.”

So läßt sich auch überprüfen, ob ein Zeuge eine besondere Motivation hat, etwa einen Schurken hinter Gitter zu bringen, Verwandten und Bekannten zu helfen oder als Kronzeuge seine eigene Strafe zu mildern.
Viele glauben, daß es für die Zuverlässigkeit spricht, wenn der Zeuge seine Aussage in verschiedenen Vernehmungen gleich macht – aber man muß aufpassen! Nochmal Armin Nack:

“In der Juristerei herrscht ja allgemein die Vorstellung vor, ein Zeuge ist dann besonders glaubwürdig, wenn er konstant, sicher und bestimmt und in allen Vernehmungen gleich aussagt: Genau das ist falsch. Man muß sehr stark differenzieren: Gleich bleiben muß der Kern des Geschehens. Und der Kern des Geschehens muß ganz eng gefaßt werden. Das, was für den Zeugen oder Angeklagten zentral war: Ort, Zeit und handelnde Personen. Und Geschehen am Rande kann und sollte sich auch verändern. Das spricht dafür, daß sich der Zeuge bemüht hat, die subjektive Wahrheit zu sagen.”

Und das wird oft falsch gemacht: Vor Gericht heißt es dann, der Zeuge habe sich in Widersprüche verwickelt. Einem Zeuge können aber auch durch Assoziationen neue Einzelheiten einfallen. Diese Erweiterung der Aussage ist kein Widerspruch, sondern geradezu ein Zeichen für die Wahrheit. Durch eine geschickte Vernehmung, zum Beispiel am Tatort, können solche Assoziationen geweckt werden. Falsch ist der Vorwurf, warum das dem Zeugen nicht gleich eingefallen ist. Axel Wendler:

“Niemand ist in der Lage, zu jedem Zeitpunkt all seine Erinnerungen abzurufen. Das kennen wir alle: Sie treffen einen alten Schulfreund auf der Straße, unterhalten sich mit dem 15 Minuten, tunlichst vermeiden Sie, ihn beim Namen zu nennen. Und kaum ist er um die Ecke, da fällt es Ihnen wieder ein, wie er heißt. Wir sind einfach nicht in der Lage, zu jeder Zeit alle Erinnerungen abzurufen und deswegen ist es nur natürlich, daß Auskunftspersonen in verschiedenen Vernehmungen Verschiedenes sagen, einmal etwas wissen und einmal etwas nicht wissen.”

Die Erweiterung ist also eher ein Realitätskriterium, ein Anzeichen dafür, daß die Aussage stimmt. Daneben gibt es auch Anzeichen, die die Vermutung stützen, daß die Auskunftsperson lügt – das sind die sog. Warnsignale. Dazu kommen wir gleich – nach ein paar Takten Musik.

2. Teil: Warnsignale – So lassen sich Lügner entlarven

Wir sind der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Lügen lassen sich mit Hilfe von Warnsignale entlarven. Zunächst einmal aber zu einem Kriterium, das überhaupt kein Warnsignal ist, aber oft als solches angesehen wird. Armin Nack:

„Alle kennen ja das Sprichwort: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Nur das Sprichwort wird selten bis zu Ende gesprochen. Denn das Sprichwort geht weiter: ‘und wenn er auch die Wahrheit spricht’ und will sagen: Die meisten Leute sind so unvernünftig, daß sie jemanden nur deswegen nicht glauben, weil er einmal gelogen hat, auch wenn er diesmal vielleicht die Wahrheit spricht. Also das Sprichwort ist sehr viel klüger, als man es meist versteht. Und das bedeutet, daß eine Lüge in einer früheren Aussage oder in einem Nebenpunkt nicht zwangsläufig bedeuten muß, daß der Zeuge oder Angeklagte diesmal auch lügt. Der Angeklagte kann etwa in einem Punkt lügen, weil es ihm peinlich ist oder er berufliche Schwierigkeiten kriegt.“

Kein Indiz für Wahrheit oder Lüge ist auch die Persönlichkeit, also ob nun jemand z.B. Adliger oder Promineneter ist. Man kann aber mit diesem Wissen abschätzen, ob jemand phantasiebegabt ist, Schriftsteller oder Schauspieler etwa. Ansonsten gilt aber: Ehrenleute sind nicht deshalb glaubhaft, weil sie gesellschaftlich angesehen sind. Ganz im Gegenteil: Wer ständig darauf pocht, die Wahrheit gepachtet zu haben, dem ist Skepsis entgegenzubringen:

“Man kann ja in alten juristischen Büchern nachlesen: ‘Die Aussage wurde sicher und bestimmt gemacht.’ Dahinter steckt die Theorie: Jemand, der eine Aussage besonders bestimmt macht, besonders laut betont und immer wieder betont, daß seine Aussage wahr ist, daß der besonders glaubhaft ist. Genau das Gegenteil ist meistens richtig: Gerade die Lügner sind oft unsicher, ob man ihnen glaubt und deswegen betonen sie ihre falschen Angaben mit großer Bestimmtheit.”

Ein Warnsignal ist es auch, wenn die Auskunftsperson „schlafende Hunde weckt“, also gleich von sich aus erklärt, weshalb sie sich noch ganz genau erinnert und weshalb alles ganz genau so war, wie sie es sagt. Axel Wendler:

“Hier wird quasi einem befürchteten Mißtrauen begegnet. Man will schon vorweg Argumente bringen. Und auch das findet sich als Warnsignal, wenn nun Argumente kommen zu Bereichen, die der Vernehmungsperson noch gar nicht aufgefallen waren. Da werden Rechtfertigungen gebracht, die wir noch gar nicht für verdächtig erachtet haben.”

Am lautesten müssen die Alarmglocken klingeln, wenn sich die Auskunftsperson zurückhält, weil sie nicht mehr weiter weiß. Wenn sie im Lügendilemma steckt und nichts anzubieten hat, dann flüchtet sie geradezu weg oder antwortet vage. “Ich weiß nicht mehr”, “Ich kann mich nicht erinnern”. Armin Nack:

“Sie können auch in der Hauptverhandlung sehen, wenn ein Zeuge in Schwierigkeiten kommt, weil die Aussage genau auf den Punkt kommt und man gibt ihm Gelegenheit, wegzukommen, weg von dem heißen Beweisthema zu flüchten. Der hört gar nicht mehr auf, davon wegzugehen. Dazu gehört etwa, daß er sich in Widersprüche des Gegners verbeißt, daß er den Gegner bestimmt, aber gar nicht mehr zu dem eigentlichen Punkt zurückkommt.”

Die Vernehmungsmetoden sind also ganz wichtig. Die richtige Vernehmung ist entscheidend für die Wahrheitsfindung. Und was oft falsch gemacht wird und wie Richter eine gute Aussage bekommen können, das erfahren Sie gleich. Dann werden wir auch versuchen, ein Lügenkomplott aufzudecken. Aber erstmal ein paar Takte Musik.

3. Teil: Die Aussagenanalyse: Aufdeckung eines Lügenkomplotts

Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht.
Wie gut eine Vernehmung ist, hängt nicht nur von den Zeugen, sondern auch – im hohen Maße sogar – vom Vernehmenden ab. Axel Wendler:

“Das Wichtigste ist, sich klarzumachen, daß wir von den Zeuginnen und Zeugen etwas wollen, nämlich möglichst viel Auskunftsmaterial, das wir dann analysieren können. Die Richter/Richterinnen, Polizeibeamten/Polizeibeamtinnen, Staatsanwaltschaft, wollen etwas von den Zeugen, sie müssen sich deshalb um sie bemühen. Sie dürfen sich nicht auf ihr hohes Roß setzen und nun einfach jemanden laden und sich das von dem schildern lassen, sondern sie müssen auch entsprechende Vorleistungen treffen. Wenn da eine Anreise von mehreren 100 Kilometern ansteht, dann denke ich, kann ich nicht jemanden auf 9 Uhr morgens laden.”

Axel Wendler bietet Zeugen am Landgericht Stuttgart auch an, vorher den Gerichtssaal zu sehen. So kann ihre Anspannung etwas gemildert werden. Solche Entgegenkommen zeigen dem Zeugen, daß er als Person wahrgenommen wird. Er wird dann eher bereit sein, an der Vernehmung mitzuwirken. An sich eine banale Erkenntnis: aber in der Praxis sind kleinere Gesten nicht immer selbstverständlich.

Das Wichtigste in der Vernehmung ist die Trennung zwischen Bericht und Verhör. Erst sollte der Zeuge ausführlich berichten, dann erst sollte der Vernehmende seine – möglichst offen formulierten – Fragen stellen. Oft kann er sich nicht zurückhalten und unterbricht den Zeugen. Aber das ist schlecht. Wenn Absprachen zwischen den Beteiligten vorliegen, kann der Richter das hauptsächlich durch den Vergleich der Berichte durchschauen. Wenn hier auffallende Gemeinsamkeiten vorliegen, ist das ein Anzeichen für ein Komplott. Und in der Regel werden die Teilnehmer des Komplottes nur das Kerngeschehen abgesprochen haben. Je mehr man fragt, was vorher und nachher war, desto vager werden die Aussagen. Axel Wendler:

“Dann werden wir sehen, daß die Aussage eine andere Qualität aufweist, daß möglicherweise Zurückhaltungssignale oder gar Verweigerungssignale auftauchen, daß sich die Beteiligten nicht mehr erinnern können angeblich oder nicht zugeschaut haben und hier haben wir dann die große Chance, daß alle an der selben Stelle sehr viel wissen, aber alle an denselben Stellen auffallend wenig. Und da unser Gedächtnis eigentlich für diese Nebenumstände gleich gut ist, ist zu erwarten, daß sie in allen Bereichen sich erinnern können müßten. Und dann ist es nur eine Frage der Vernehmung, daß wir etwas finden, wo wir sie in Widersprüche, in direkte Widersprüche verwickeln können.”

Zusammen mit Axel Wendler haben wir das in einem kleinem Spiel ausprobiert. Drei Studenten sollten sich ein Komplott ausdenken. Folgenden Sachverhalt haben wir vorgegeben: Vor einem Jahr hat sich der Beklagte, Thomas Müller, in seinem Neubau das Bad fliesen lassen, genauer das Klo. Ursprünglich war vorgesehen, halbhoch zu fliesen, dann wurde aber der Kläger, Herr Kimmerling, beauftragt, doch deckenhoch zu fliesen. Nun will Thomas Müller den erhöhten Preis nicht mehr bezahlen. Vor Gericht behauptet er, Herr Kimmerling habe ihm als Entgegenkommen die Fliesen bis zur Decke hoch umsonst gelegt. Zwei Zeugen sollen bei dem Gespräch angeblich dabei gewesen sein. Die Studenten hatten eine Woche Zeit, sich eine Geschichte zu überlegen. Hören wir einfach mal in den Bericht des Beklagten, Thomas Müller, hinein:

“Er hat gemeint, diese halbhohe Fliesweise, so wie’s ursprünglich ausgemacht war, würde ästhetisch nicht so toll wirken.”
“Und dann?”
“Dann war es so, daß er mir zugesichert hat, das kostenlos – ohne Mehrpreis – hochzufliesen. Das fand ich toll, weil ich ihn ja für die ganze Sache beauftragt habe, und er ist nicht der Günstigste. Ich fand das ein tolles Entgegenkommen und hab mich sehr gefreut.”

Das Gespräch soll um den 1. Mai herum stattgefunden haben. Warum er sich nach über einem Jahr noch so genau daran erinnern kann, möchte Richter Wendler wissen:

“Das weiß ich deswegen so genau, weil ich noch Besuch bekommen habe und an dem Tag noch einen Ausflug unternommen hab.”
“Jetzt wird mir noch nicht klar die Verknüpfung ‚Besuch – Ausflug‘“.
„Ja, das liegt daran, daß ich dann noch eine Radtour machen wollte mit dem Herrn Mayer. Und zwar aus einem ganz witzigen Grund: Eine Kollegin von mir, die Frau Schmidt, die hat ihn kennengelernt  und die wollt ich so etwas zusammenführen. Wir hatten dann ausgemacht, der Ulrich Mayer und ich, daß wir eine Radtour machen zum Kirchentellinsfurther See und dort dann anschließend hinfahren.“

Thomas Müller müßte sich eigentlich an den angeblichen Ausflug genauso gut erinnern können wie an das Gespräch mit dem Fliesenleger. Die Beteiligten werden aber vermutlich über den gemeinsamen Ausflug wenig abgesprochen haben. Er dient ja nur der Begründung dafür, daß die Zeugen dabei gewesen sein sollen. Der Trick ist also nun, Fragen über dieses Randgeschehen zu stellen und die Antworten zu vergleichen. Zum Beispiel: Wie lange hat die Fahrt gedauert? Darauf war die Gruppe offensichtlich nicht gefaßt. Achten Sie einmal darauf, wie sich Thomas Müller windet und versucht, Zeit zu gewinnen:

„Die Fahrt zum See oder zu diesem Bereich, also das ist ja die typische Radlerplatte. Wie lange sind wir da gefahren? Etwas länger als sonst, weil die Frau Schmidt ein etwas anderes Tempo, glaub ich, drauf hat, als der Herr Mayer und ich und deswegen ging das – ha! –  mindestens 20 Minuten länger als sonst.“
“Und wie lang ging das sonst?”
“Das kommt drauf an, ob man die Mountainbike-Strecke fährt. Ich weiß nicht, ob Sie die kennen, die geht am Wald entlang…”
“Nee, es interessiert mich eigentlich die Strecke, die man gefahren ist!”
“Wir sind sicherlich die einfachere gefahren. Das ist die Inline-Skater-Strecke. Die befindet sich am Tal.”
“Und wie lang braucht man für die sonst?”
“Ich würd’ sagen – kommt auf die Geschwindigkeit an – 20 Minuten etwa.”
“20 Minuten, nochmal 20 Minuten – haben Sie also die doppelte Zeit gebraucht.”
“Ja, bestimmt.”

Wir haben es gemessen: 45 Sekunden hat er für diese Angabe gebraucht. Axel Wendler:

“Man hört an dieser Stelle sehr schön, was in ihm gedanklich vorgeht. Er wird kalt erwischt, auf diese Frage ist er offensichtlich nicht vorbereitet. Und nun versucht er, Zeit zu gewinnen, indem er uns sprachlich offenlegt, was er eigentlich denkt. Er fragt sich sogar selber: wie lange sind wir da gefahren? Jetzt arbeitet’s in seinem Kopf, dann kommt so eine übliche Zeit und prompt totaler Widerspruch zu den Angaben der beiden anderen.”

Und das liegt daran, daß er etwas ganz Gefährliches sagte, nämlich, daß seine Zeugin, Daniela Schmidt, eine ungeübte Radfahrerin sei. Mal hören, ob er damit recht hat:

“Also man fährt ungefähr so von hier aus in Tübingen 20 Minuten, oder so, denk ich fährt man schon. Also ich denk mal so lang.”
“Fahren Sie öfters Rad?”
“Ja, manchmal schon, also so Fahrradtouren hin und wieder.”
“Also nicht das allererste Mal, nicht so, daß Sie völlig außer Tritt waren oder gar nicht hingekommen sind?”
“Nö. So war’s nicht.”
“Also, so üblicherweise was man braucht. 20 Minuten schätzen Sie.”

Und der zweite Zeuge, Uli Mayer:

„Gott! Dreiviertelstündchen oder sowas? Weiß ich nicht, also ich bin die Strecke jetzt schon öfters gefahren, ich brauch da nicht länger. Aber wie lang wir da jetzt gebraucht haben, das weiß ich nicht mehr.“
“So eine Dreiviertel Stunde etwa.”
“Jaja.”

Auch an Details, etwa wie das Haus ausgesehen haben könnte, hat die Gruppe nicht gedacht. Auch hier finden sich Widersprüche:

“Hat es Fenster gehabt?”
Müller: “Ich meine nein, das ganze Dach war ja auch noch nicht ausgebaut!”
Hat es ein Dach gehabt?
Mayer: “Es war gedeckt, jaja, klar.”

Im Gegensatz zu Herrn Müller und Herrn Mayer, bietet Frau Schmidt nur wenige Details an. Dadurch widerspricht sie zwar niemandem, aber es bleibt auch relativ wenig Inhaltliches übrig. Achten Sie einmal darauf, wie vage Frau Schmidt antwortet und wie wenig sie sich festlegen möchte:

“Wer kam denn zuerst am Rohbau an, Sie oder der Herr Mayer?”
“Das weiß ich nicht mehr, keine Ahnung! kann ich mich nicht mehr dran erinnern.”
“War der Herr Müller schon dort?”
“Der war schon dort. Ich denk schon.”
“War der – Handwerker haben Sie ihn genannt -, war der schon da?”
“Ha, ich weiß jetzt eigentlich nicht genau, wer da jetzt zuerst oder danach kam. Ich kann mich jetzt nicht mehr so gut an Einzelheiten erinnern. Ich weiß nur noch, daß wir uns irgendwann mal in dem Haus befunden haben.”

Je mehr Details der Richter – überraschender Weise – von den Zeugen wissen will, desto mehr entlarven sie, daß sie alles nur erdacht haben. Achten Sie nur auf die spontane Reaktion von Uli Mayer auf die Frage von Axel Wendler:

“Wo haben Sie denn Ihre Fahrräder hingetan?”
„Puh! (Lachen)“
„Ja vor dem Haus irgendwie.“
„Ich kann mir vorstellen, daß es ein ganz schönes Chaos war. Hat’s da Platz gehabt?“
„Jaja…“
„Also dieses Lachen hört sich ja jetzt wie eine Art Schock an. Er ist jetzt völlig überrascht, daß ihm die Frage gestellt wurde. Und dann brummelt er so vor sich hin…“

Er weiß also nicht mehr so recht, wo er sein Fahrrad abgestellt hat, aber wie der Fliesenleger aussah, das will er noch wissen.

“Der war ziemlich klein, das hab ich noch in Erinnerung. Ich schätz mal, so um die 60, also etwas älter.”
“Noch irgendwas erinnerlich?”
“Brille hat er gehabt!””Brille! An die Brille erinnert er sich. Völlige Belanglosigkeit. Er weiß nicht, was sie sonst noch gemacht haben und von der Frau Schmidt – auch wenn da nichts draus geworden ist aus der Beziehung, würde ich doch eher vermuten, daß er eher eine Erinnerung an sie haben müßte, aber er erinnert sich noch an die Brille von dem Handwerker.“

Denn sein Interesse dürfte eher auf den Flirt mit Frau Schmidt als auf die geschäftlichen Angelegenheiten seines Freundes gegangen sein. Und die Erinnerung an das, was von Interesse ist – vor allem wenn es mit Gefühlen zu tun hat – bleibt haften. Verblüffend ist die Aussage von Herrn Mayer auch, wenn man vergleicht, wie Thomas Müller seinen Kontrahenten beschrieben hat – genau gleich:

“Er ist deutlich kleiner als ich, also ich schätz mal ein Kopf kleiner – und etliche Jahre älter. und eine Brille, eine etwas dickere.”„Man sieht: Da wird bereitwillig Auskunft gegeben, dankbar das, was abgesprochen wurde, uns angeboten und andere Dinge, die genauso gut da sein müssten, werden sehr viel ungenauer, sehr viel vager ausgedrückt. Und der Vergleich zwischen diesen Aussageteilen denke ich, macht es möglich zu sagen, daß hier offensichtlich Absprachen stattgefunden haben.”

Durch eine genaue Aussagenanalyse läßt sich also herausfinden, ob die Auskunftsperson lügt. Eine solche Analyse wird in der Praxis durch schriftliche Protokolle erschwert. Die Aussagen werden darin nur zusammengefaßt – und zwar in der Sprache des Richters oder Polizeibeamten. Dabei gehen viele wichtige Informationen verloren, z.B. ob ob eine Suggestiv-Frage vorausging. Deshalb plädiert Axel Wendler, Vernehmungen auf Tonband oder – besser noch – auf Video zu protokollieren. Unterm Strich ist das auch nicht teurer und erspart viel Arbeit… und vor allem: es dient der Wahrheit.
Gefährlicher als die Lüge ist der Irrtum. Denn die Aussage des Irrenden bietet alle Realitätskriterien, er möchte ja auch die Wahrheit sagen, kann es aber nicht: Er hat die Situation nicht richtig wahrgenommen oder kann sich nicht mehr richtig daran erinnern, glaubt sich aber im Recht. Die Irrtumsmöglichkeit wird in der Beweiswürdigung oft übersehen. Woran man Irrtümer erkennen kann,  das erfahren Sie gleich – vorher noch ein bißchen Musik.

4. Teil: Der Irrtum – größter Feind der Wahrheit!

Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Und wir kommen nun zu etwas Klassischem: Errare humanum est – irren ist menschlich.

Realitätskriterien und Warnsignale können Aussagen auf ihren Lügengehalt hin überprüfen. Aber man spricht nur von „subjektiver Wahrheit“, denn die Auskunftsperson kann sich auch geirrt haben. Und diesen Irrtum wird sie auch gegen alle Widerstände verteidigen, z.B. wenn sie etwas falsch wahrgenommen hat. Wir erkennen in Mustern und ziehen – manchmal vorschnell – Schlüsse, um welchen Gegenstand es sich handeln muß. Armin Nack, Richter am Bundesgerichtshof:

“Angenommen, Sie sehen ein Auto auf der Straße: Woran erkennen Sie, daß es ein Mercedes ist? Sie erkennen es daran, daß Sie ein Muster im Gedächtnis haben, wie ein Mercedes aussieht: Kühlergrill, Mercedesstern, äußere Form. Und wenn Sie nun eine Wahrnehmung machen, werden diese Wahrnehmungen, die Sie machen, verglichen mit den Mustern, die Sie im Gedächtnis haben. Und dann kommen Sie auf den Gedanken: ‘Der sieht so ähnlich aus wie ein Mercedes. Aha es war ein Mercedes.” Und der Zeuge wird behaupten, es war ein Mercedes. In Wirklichkeit war es vielleicht ein japanischer Lexus-Wagen, der so ähnlich aussieht wie der Mercedes. Und das hat diese biologischen Gründe, daß unsere Vorfahren sehr schnell erkennen mußten: Aha, das ist ein Löwe, vor dem muß ich fliehen, und diejenigen, die geflohen sind, haben überlebt und diejenigen, die nachgedacht haben, ist es vielleicht doch kein Löwe, die wurden von den Löwen später irgendwann einmal gefressen.”

Aus einer Reihe von Details ziehen wir also unsere Schlußfolgerungen. Wir können nicht alles vollständig wahrnehmen. Unsere Sinnesorgane sind nicht gut genug: In der Dämmerung können wir zum Beispiel keine Farben sehen. Und auch die Flut von Reizen können wir nicht bewältigen. Die allerwenigsten registrieren wir überhaupt. Axel Wendler, Richter am Landgericht Stuttgart:

“Wir sehen nur Bruchstücke eines Geschehens, es bleiben Lücken, und diese Lücken werden unbewußt geschlossen, entweder hin zum üblichen oder zu dem was gut in den Handlungsablauf hineinpaßt oder aber auch zum Besonderen. Wenn der Beteiligte eben besonders groß war, dann wächst er noch ein bißchen. Hat er vielleicht eine auffällige Nase, hat er gar eine Hakennase mit Pickel womöglich. Da wird natürlich immer mehr übertrieben – unbewußt natürlich.”

Das hat man schon oft gestestet:

„Ich erinner mich etwa an einen Verkehrsunfall, den wir geschehen ließen, ein kleiner Auffahrunfall zwischen zwei Fahrzeugen und dann sind vier Beteiligte ausgestiegen, haben miteinander diskutiert uns sind dann wieder in die falschen Autos eingestiegen und wir haben dann die unbeteiligten Zeugen beschreiben lassen, was da passiert ist und uns auch Personenbeschreibungen geben lassen. Einmal erinnerte sich ein Zeuge an die Fahrerin. Er beschrieb sie als Schwarze mit Rastalocken; tatsächlich war das aber eine Deutsche eher blassen Teints mit dunklem Haar. Tatsächlich war einer der Männer Schwarzer. In einem anderen Fall, wo wir was ähnliches getestet haben – auch ein Verkehrsunfall, gab es überhaupt keinen Schwarzen und doch wurde ein Schwarzer gesehen, oder ein Polizeibeamter sah eine Frau mit einem Turban.”

Und auch wenn sie den Unfall nicht gesehen haben, wollen manche Leute im nachhinein irgendetwas wahrgenommen haben. Armin Nack kennt dieses Phänomen der Knallzeugen:

„Die drehen sich um, wenn sie den Knall gehört haben, sehen dann die Fahrzeuge in die Endstellung rollen und rekonstruieren dann, wie der Unfall gewesen ist. Und wenn dann noch ein roter Porsche dabei war, dann fuhr der besonders schnell und es gibt noch männliche Zeugen, die sehen, daß eine Frau am Steuer war daraus den Schluß ziehen, daß die Frau schuld gewesen sein muß.“

Unser Vorverständnis ist also für unsere Wahrnehmung auch mitentscheidend. Wahrnehmung wird subjektiv verfälscht. Wir nehmen das wahr, was wir wahrnehmen wollen, das was wir verstehen – und wir lassen uns beeinflussen. Durch uns selbst – denken Sie an Neugier oder brenzlige Situationen – oder auch durch andere. Ein Experiment hat das nachgewiesen. Armin Nack:

„Man hat einer Gruppe Studenten erzählt: Der Referent, der jetzt kommt, ist ein brillanter Rhetoriker, fesselnd, was er erzählt, faszinierend, wie er das vorträgt. Und der anderen Gruppe hat man erzählt: Einen solchen Langweiler von Referenten haben wir noch nie gesehen. Spröde trägt der vor, überhaupt nicht anschaulich. Und dann hat man den Referenten vor diesen Studenten vortragen lassen und dann die Studenten gefragt, wie sie denn den Referenten fanden. Diejenigen, denen er vorher als fesselnd beschrieben worden war, die fanden ihn ganz toll und die anderen fanden ihn ganz langweilig. Und auch als man die Studenten aufgeklärt hat und ihnen gesagt hat, daß man sie manipulieren wollte, blieben sie bei ihrer Einschätzung.“

Alleine in der Wahrnehmung können also Fehler auftreten, genauso bei der Erinnerung. Ein großer Feind der gespeicherten Information sind Gespräche mit anderen Beteiligten über das Ereignis. Es bildet sich dann eine gemeinsame Meinung über den Ablauf. Und diese Meinung überschreibt die wahrgenommene Information wie eine Computerdatei. Ähnliches passiert, wenn Gewaltopfern zur Identifizierung des Täters ein Fotokatalog mit Verdächtigen gezeigt wird.

Überhaupt werden nur die wenigsten Informationen in unserem Langzeit-Gedächtnis gespeichert – und dort müssen sie hin, um auch Monate später vor Gericht abrufbar zu sein. Der Filter ist auch hier unser Interesse. Das, was wir uns merken wollen, behalten wir.
Routinehandlungen gehören nicht dazu. Den Herd ausmachen oder das Wasser der Waschmaschine abdrehen. Das alles machen Sie unbewußt, und wenn Sie in Urlaub fahren und im Flugzeug überlegen, ob Sie auch wirklich an alles gedacht haben: Sie können sich nicht daran erinnern, so sehr Sie sich anstrengen. Diese Informationen sind für immer weg. Es sei denn, Sie haben sich ihre Handlung bewußt gemacht.
Vor Gericht ist dann folgende Situation denkbar. Jemand soll bei Rot über die Ampel gefahren sein und dadurch einen Unfall verursacht haben. Er wird sich nicht mehr daran erinnern, weil das Überfahren der Ampel zu den Routinehandlungen gehört. Vor Gericht wird er ehrlicherweise nur sagen können, daß er normalerweise nicht bei Rot über die Ampel fährt. Wenn das Gericht schlecht geschult ist, wird er den Prozeß verlieren.

Interessant ist, wie unser Gedächtnis Informationen speichert. Nicht wie ein Videoband, so daß man Filme vor seinem geistigen Auge beliebig oft abspielen könnte. Die Informationen werden mit Verknüpfungen gespeichert. Das ist ja der Effekt, den die Werbung erzielen will: Daß Sie einen Sportler mit einem Produkt in Beziehung setzen. Was man wissen muß, ist daß das Gedächtnis mehrere ähnliche Situationen nicht mehr auseinanderhalten kann. Axel Wendler:

“Etwa ein Polizeibeamter, der immer wieder an der selben Kreuzung einen Unfall aufnimmt, und in der Verhandlung meint, sich an das Geschehen genau zu erinnern, aber eben nun mehrere Unfälle zusammengezogen hat – unbewußt.”

Voll überzeugt wird er dann Fakten liefern, die von einem ganz anderen Unfall sind. Und bewußt wird die Verschmelzung natürlich auch genutzt – von Lügnern. Sie werden kaum eine Phantasiegeschichte von A bis Z erfinden. Sie überlegen sich, ob sie so etwas ähnliches schon einmal erlebt haben und verändern nur wenige Details. Das ist nur über einen sorgfältigen Vergleich der Aussageteile zu knacken, also ob sich Körpersprache, Ausdrucksweise oder Detailreichtum verändern.
Wenn aber etwa das Opfer die Tat einem anderen in die Schuhe schieben will und gerade mal Zeit, Ort oder gar nur den Namen austauscht, ist das die größte Herausforderung für einen Vernehmer.
Gleich nach der Musik erfahren Sie noch von einer weiteren Hürde: Das Gericht muß sich das richtige Bild vom Sachverhalt machen – aus den Worten der Auskunftspersonen.

5. Teil: Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte – oder anders: 1 Wort ergibt 1000 Bilder!

Der Wahrheit auf der Spur. Tatsachenfeststellung vor Gericht. Nun zu unserem letzten Teil.

Wenn die Auskunftsperson richtig wahrgenommen hat und sich an alles korrekt erinnert, dann bleibt immer noch eine große Fehlerquelle: die Widergabe. Die Bilder müssen richtig übertragen werden – vom Kopf des Zeugen in den des Richters.
Was dabei passiert, haben wir in einem Experiment zusammen mit Axel Wendler getestet. Wir haben einem Studenten eine Strichzeichnung gezeigt. Er sollte sich das Bild einprägen und dann dem nächsten erzählen. Dieser wiederum machte sich sein eigenes Bild und schilderte das einem Dritten usw. Was auf dem Bild zu sehen ist, beschreibt Axel Wendler:

“Auf dem Bild, das unsere erste Person zu sehen bekommt, sieht man eine Seite einer Straßenbahn oder U-Bahn. Da sitzen im Hintergrund fünf Personen, zwei Frauen und drei Männer, einer schläft, einer liest in einem Buch, der andere in einer Zeitung. Eine der Frauen hat ein Kind auf dem Schoß und im Vordergrund stehen zwei Männer: ein schwarzer in einem Anzug gekleideter und ein weißer, kahlköpfiger, der in einer aggressiven Körpersprache auf den schwarzen deutet, so daß der Eindruck eines Streitgespräches zwischen den beiden entsteht.”

Und der erste erkennt darin ein Muster, nimmt also subjektiv wahr.

„Und das eine könnte ein Schaffner oder so sein. Hat irgendwie so eine Art Uniform an.“
„Sehen Sie eigentlich Farben?”
„Nein.“

Die zweite Mitspielerin hat die vollständige Beschreibung gehört und wird nun ihrerseits ihr eigenes Bild beschreiben. Uns interessiert natürlich vor allem, wie sich die verschiedenen Bilder voneinander unterscheiden werden. Axel Wendler.

„Mit Sicherheit – davon gehe ich jedenfalls aus, wird unsere nächste Teilnehmerin Farben sehen. Ich habe diese Frage ja ausdrücklich an den ersten diese Frage gestellt und er war nun verhaftet an das Bild, das er tatsächlich gesehen hat. Sie aber schaut sich nur ihr eigenes Bild an, das sie in ihrem eigenen Kopf macht. Und das hat natürlich Farben. Und sie wird uns sicherlich die Kleidung in Farben beschreiben können:””Die hat so ein Kleid an, ein bißchen so ein Oma-Kleid mit Blümchen drauf. Der Mann neben ihr hat eine Jeans an und ein Hemd.”
“Dann haben wir noch die zwei Exponierten. Wie sehen die denn aus?”
“Das sind ganz normale Fahrgäste. Bei einem fällt mir auf, daß er weiße Socken trägt.”
“Jetzt meinte ich noch die zwei Gestikulierenden.”
“Also der eine scheint ein Schaffner zu sein, der ist uniformiert. Der andere ist farbig.”
“Und was hat der an?”
“Der hat so ein kanariengelbes Poloshirt an.”
“Und der Schaffner – die Uniform?”
“Die ist dunkelblau und er hat so eine Schaffnermütze mit so einem roten Band rum an.”

Das Ursprungsbild war eine Strichzeichnung, nun hat es schon Farbe bekommen. In das Bild des nächsten kommt sogar Bewegung:

„Und der andere ist wohl schwarzer Hautfarbe und gestikuliert ganz wild und brüllt wohl auch, also ich sehe seine Mundbewegungen und der Schaffner geht relativ gut auf ihn ein, so scheint es, hält aber auch gut dagegen.“

Und eine wichtige Erkenntnis ist auch, daß bei der Umsetzung von Worten in eigene Bilder Erfahrungen und Vorverständnis eine bedeutende Rolle spielen. Worunter stellt sich ein Schwabe einen Straßenbahnwaggon vor?

“Der Straßenbahnwaggon ist so ein typischer, wie er in Stuttgart früher eingesetzt wurde, mit roten Kunstlederbezügen.”

Und die Wahrnehmung wird auch von äußeren Umständen beeinflußt. Das zeigt uns die vierte Mitspielerin, die uns in einem heißen Raum ihr Bild beschreibt:

“Die Fahrgäste sind alle leicht bekleidet, weil es heiß ist im Waggon und die Tür vorne ist offen.”

Und auch der Trend, das Bild immer mehr zu erweitern, wird fortgesetzt. Auf der Strichzeichnung war nur eine Momentaufnahme aus einer Straßenbahn zu sehen, nun haben wir eine ganze Szene:

“Um die Haltestelle rum ist ein Park und auf der anderen Seite sehe ich Häuser, also Wohnblock und Leben.”

Was läßt sich aus einem solchen Spiel lernen? Axel Wendler:

„Daß wir gezwungen sind, aufgrund von mit Worten, die wir hören Bilder uns zu machen und daß wir uns im klaren darüber sein müssen, daß diese Bilder oft weit entfernt von demjenigen, das der andere gerade vor seinem geistigen Auge hat. Ich denke, es ist ganz wichtig, sich klarzumachen, daß wir alle sehr viel  beitragen, sowohl die Sender, wenn sie uns was berichten als auch wir Empfänger, wenn wir etwas hören. Daß wir immer weiter weg gehen, von dem, was wirklich passiert ist.”

Und wenn wir uns nochmal klar machen. Damit eine Aussage zuverlässig ist, muß das Ereignis erst richtig wahrgenommen, dann richtig erinnert, außerdem wahrheitsliebend geschildert und schließlich richtig verstanden werden. 50 % aller Zeugenaussagen sind unzuverlässig, haben wir gehört –   mindestens.

Teilen auf:
Dieser Beitrag wurde unter Unkategorisiert veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.