Fataler 1. Mai, Acht gestohlene Monate, Frankfurter Rundschau, 31.12.2009
Wie zwei Berliner Schüler in die Mühlen der Justiz gerieten: Die lange U-Haft, einseitige Ermittlungen und eine merkwürdige Prozessführung machen den Fall zu einem Skandal. Von Jörg Schindler
Der 1. Mai 2009 ist ein guter Tag im 19-jährigen Leben von Yunus K. Er hat gerade seine schriftlichen Abiturprüfungen hinter sich, das Pauken hat vorerst ein Ende, die Sonne scheint, der Sommer kommt. Es ist Freitag, Feiertag, auch in Kreuzberg, das sich vorbereitet, wieder einmal, auf eine turbulente Nacht. Es wird Demonstrationen geben, mehr oder weniger friedliche, Massenaufläufe, Ausschreitungen, wie jedes Jahr. Yunus war schon häufiger dort. Diesmal zögert er, dann geht er doch los, er will seine Freunde treffen, zum ersten Mal nach öden Wochen am Schreibtisch. Am frühen Abend macht er sich auf den Weg. Es ist die vermutlich schlechteste Entscheidung im 19-jährigen Leben von Yunus K. Es ist der Beginn eines Alptraums, aus dem er erst 231 Nächte später allmählich erwachen wird.
Am Abend des 1. Mai 2009, gegen 21.30 Uhr, stehen sich am U-Bahnhof Kottbusser Tor eine aufgebrachte Menschenmenge und mehrere Hundertschaften Polizisten gegenüber. Die Stimmung ist feindselig wie lange nicht mehr, es fliegen Worte, dann fliegen Steine und schließlich fliegt schräg unter den Hochbahngleisen auch ein Molotowcocktail. Im Flug tropft aus der Flasche brennendes Benzin auf den Rücken einer Frau, die sofort Feuer fängt, dann zerschellt der Brandsatz in der Nähe einer Gruppe von Polizisten. Ein Feuerball löst sich, es entsteht ein Tumult, aber niemand weiteres wird verletzt.
Nicht weit vom Geschehen entfernt befinden sich zu diesem Zeitpunkt zwei Polizisten in Zivil, die einer speziellen Dienststelle für Fahndung und Observation angehören. Sie glauben, den Werfer des Molotowcocktails – einen Jungen mit weißem T-Shirt und schwarzem Basecap – sowie dessen ganz in Schwarz gekleideten Komplizen gesehen zu haben. Die Gesichter erkennen sie nicht. Die beiden, so werden die Beamten später zu Protokoll geben, flüchten vom Tatort ausgerechnet in die Reichenberger Straße, obwohl dort eine weithin sichtbare Polizeisperre errichtet wurde. Die Zivilpolizisten nehmen die Verfolgung auf und stellen die vermeintlichen Täter kurz darauf mühelos. “Jetzt wandert ihr ein paar Jahre in den Knast”, hören Yunus K. und Rigo B., als die Handschellen klicken.
Noch in derselben Nacht melden sich am Kottbusser Tor zwei Filmstudenten bei der Polizei, weil sie überzeugt davon sind, die Täter beobachtet zu haben. Kurz vor dem Wurf des Molotowcocktails seien sie auf vier bis sechs junge Männer mit Rucksäcken aufmerksam geworden, in deren Nähe es nach Benzin gerochen habe. Weil sie ihnen verdächtig vorgekommen seien, hätten sie die Gruppe fotografiert. Einer von ihnen, ein Junge mit weißem T-Shirt und schwarzem Basecap, habe sich damit gebrüstet, “als Nächstes dran” zu sein. Kurz darauf sei aus der Gruppe heraus der Brandsatz geworfen worden, der die unbeteiligte Demonstrantin verletzte. Dann seien alle Richtung Kottbusser Straße getürmt.
Die Studenten übergeben der Polizei die Chipkarte ihrer Spiegelreflexkamera. Besonders interessant: die Fotos 4679 und 4680, zweifelsfrei aufgenommen am Tatort. Sie zeigen nach Aussage der Zeugen die Tätergruppe, zwei gestochen scharf von vorne, zwei von hinten. Alle haben kurz geschorene Haare – ganz anders als Yunus K. und Rigo B., die zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zu ihrem Verhör sind. Die Polizei nimmt die Fotos zu den Akten und kümmert sich nicht weiter darum. Sie ist sich sicher: Die wahren Täter haben wir ja.
Die Täter, das sind nach Überzeugung der Ermittler: Rigo B., ein etwas verhuschter, schüchterner 17-Jähriger, braune halblange Haare, markante Nase. Und Yunus K., ein 19-Jähriger mit schwarzen halblangen Haaren, dunkle Augen, offen, freundlich, eher klein als groß. Und bei der Polizei kein Unbekannter: Er ist im April 2008 schon einmal zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden, weil er in der Nacht zum 1. Mai 2007 eine Flasche auf Polizisten geworfen haben soll. Eine Tat, die er bis heute bestreitet. Vor Gewalt, sagt Yunus K., habe er “eher Schiss”.
Beide, Rigo wie Yunus, bestreiten auch von Anfang an, im Pulk der gewalttätigen Demonstranten mitmarschiert, geschweige denn einen Molotowcocktail geworfen zu haben. In getrennten Verhören berichten die beiden Waldorfschüler übereinstimmend, wie sie sich am Abend des 1. Mai zufällig in Kreuzberg trafen. Rigo ist der jüngere Bruder von Yunus´ bestem Freund. Beide schildern, wie sie den Tumult am Kottbusser Tor auf einem Wagenanhänger sitzend verfolgten, wie Yunus darauf drängte, sich fernzuhalten, weil er Angst wegen seiner Bewährungsstrafe hatte, wie sie schließlich zu einem Geldautomaten wollten, wo sie aber nie ankamen, weil sie vorher festgenommen wurden. Ihr Pech: Die Polizei glaubt ihnen nicht – sie glaubt den Kollegen, welche beteuern: Die waren´s! Am 2. Mai wandern Rigo B. und Yunus K. in Untersuchungshaft. Sie werden dort fast acht Monate lang bleiben.
So sicher sind sich die Ermittler, dass sie es mit ihren Ermittlungen offenbar nicht so genau nehmen. Mehrfach drängt Rigos Verteidiger darauf, dass die Polizei die Kleidung seines Mandanten im Labor untersuchen lässt. Wenn der Molotowcocktail tatsächlich geleckt hat – was nach Aussage aller Beteiligten unstrittig ist – müssten sich dann nicht Benzinspuren an Hose und Shirt finden? Die Polizei ist nicht interessiert. Ebensowenig wie an den Händen der Festgenommenen. Immerhin: Rigos Basecap und Yunus´ Sweatshirt werden dann doch analysiert – Spuren von Brandbeschleuniger finden sich nicht. Bis heute gibt es zudem keine Wohnungsdurchsuchung bei den Schülern. Und monatelang fahndet niemand nach den vier jungen Männern, die von den Studenten fotografiert wurden, obwohl es sich bei ihnen mindestens um wichtige Tatzeugen handelt. …