Berufsbedingt überheblich, Die Zeit, von Norbert Blüm, 06.07.2013
Nach einem Urteil des Amtsgerichtes Berlin-Tiergarten darf die katholische Kirche “eine kinderfickende Sekte” genannt werden. Würde ich eine Richterin am Familiengericht als “stutenbissige Emanze” titulieren, ich hätte ganz schnell ihren Kollegen Strafrichter am Hals. Zu Recht.
Die unterschiedlichen Konsequenzen haben allerdings kaum damit zu tun, für welche dieser Schmähungen weniger Gründe beansprucht werden könnten. Sie hängen vielmehr damit zusammen, dass Kritik an Richtern ein Tabu ist. Richter beanspruchen “Unangreifbarkeit”. Warum eigentlich? Selbst der angeblich unfehlbare Papst ist öffentlichen Angriffen ausgesetzt. Nichts und niemand ist vor Kritik geschützt. Nur Richter empfinden Angriffe als Zumutung, für die Strafen wegen Nötigung drohen. Rücktritt – das ist im Richtergewerbe ein völlig unbekanntes Wort, ja eine unerhörte Vorstellung.
Anklagen gegen Richter sind eine Rarität. Selbst als ein Oberlandesgericht sehenden Auges mit seinem Urteil gegen Recht und Gesetz verstieß und das Verfassungsgericht dies als eine “willkürliche Entscheidung” bezeichnete, passierte den Richtern nichts. Die vom Staatsanwalt beantragte Eröffnung eines Strafverfahrens wurde abgelehnt, weil bei drei beteiligten Richtern nicht geklärt werden konnte, ob sie alle die fragliche Entscheidung zu verantworten hatten. So entschieden durch dasselbe Oberlandesgericht, an dem die mutmaßliche Rechtsbeugung begangen worden war.
Hat irgendwer irgendwo danach auch nur einen Hauch von öffentlicher Verwunderung gespürt? Vergleichbares hätte in der Politik einen Orkan der Windstärke 11 ausgelöst.
Richter sind frei wie ein Vogel unter Gottes weitem Himmel. Sie sind nur ans Gesetz gebunden. Wenn sie es fehlerhaft auslegen, werden sie schlimmstenfalls von übergeordneten Instanzen zur Ordnung gerufen, was sie nicht weiter beunruhigen muss. Notfalls verweigern sie die Überprüfung ihrer Urteile, weil eine erneute Beweisaufnahme nach so langer Zeit “unzumutbar” sei, wie in Bayern mehrfach geschehen.
Es gibt keinen anderen Berufstätigen, der seine Arbeit so unabhängig organisieren und selbst bestimmen kann, wann, wo, wie und wie viel er arbeitet. Für dieses Richterprivileg gibt es gute Gründe; sie liegen in der Unabhängigkeit der dritten Gewalt, die zur Urausstattung der freiheitlichen Gewaltenteilung gehört. Diese Unabhängigkeit wird von niemandem infrage gestellt. Doch gehören zu dieser Unabhängigkeit auch die Freiheit von Kritik und der Verzicht auf Rechtfertigung? Bedeutet Unabhängigkeit auch Unangreifbarkeit?
Der ehemalige Präsident des Bundesgerichtshofes Günter Hirsch verstieg sich zu der Feststellung, dass es bei der gesetzesauslegenden Urteilsfindung nicht darum gehe, “was der Gesetzgeber – wer immer das sein mag – beim Erlass eines Gesetzes ›gedacht hat‹, sondern was er vernünftigerweise gedacht haben sollte”. Der Richter ist also eine Gouvernante, die es besser weiß als das Parlament. Lässt sich die Selbstüberschätzung höher treiben? Auf diese Weise wird die Unabhängigkeit zu einer Ungebundenheit vom Recht, die Recht nicht auslegt, sondern schafft. …