WDR markt-Scanner: Gesetzliche Betreuung, Missbrauch möglich, 04.11.2013
Es kann schneller passieren, als man glaubt: Bedingt durch Krankheit oder Behinderung werden private Angelegenheiten plötzlich durch eine fremde Person geregelt. Die kann Finanzentscheidungen treffen oder auch bestimmen, ob man in der eigenen Wohnung bleiben darf. Was sinnvoll als staatliche Fürsorge gedacht ist, kann aber im schlimmsten Fall missbraucht werden und Betreute um ihre gesamten Ersparnisse bringen.
Wer in die Situation gerät, wichtige Dinge nicht mehr selbst entscheiden zu können, bekommt einen sogenannten Betreuer zur Seite gestellt. Laut einer Studie von Transparency International ist die Befugnis eines gesetzlichen Betreuers weitreichend, sodass im schlimmsten Fall der Betreuer seinen „Schützling“ allzu leicht „ausnehmen“ könne. Denn die Macht eines Betreuers sei geballt, so die Autorin der Studie, Anke Martiny: Er habe alleinige Entscheidungsgewalt und eine Überprüfung seiner Tätigkeit sei laut Gesetz erst nach sieben Jahren vorgeschrieben. „Das heißt also, sieben Jahre kann ein Betreuer werkeln, wie ihm das richtig scheint, ohne dass seine Wirtschaftskompetenz beispielsweise überprüft werden muss“, kritisiert die Expertin.
Als Hans Vriesen mit Anfang 40 die Diagnose einer schweren Depression bekommt, wird ein Berufsbetreuer eingesetzt, der sich unter anderem auch um sein Vermögen kümmern soll. Nach sieben Monaten ist der Hufschmied und Leiter eines Veranstaltungsbetriebs wieder gesund, die Betreuung wird aufgehoben und er möchte seine beiden Jobs wieder aufnehmen. Doch alles, was er dafür braucht, sei während der Betreuung verschwunden: Hammer, Ambos, Gasofen, Hufeisen, Materialien. Als während seines Krankenhausaufenthaltes die angemietete Halle wegen Mietverzugs geräumt werden muss, soll der Betreuer die Sachen sichergestellt haben – doch außer kleineren Dingen wie Schraubenzieher und Schraubenschlüssel sei nichts mehr da, klagt Hans Vriesen. Der geschätzte Schaden betrage 60.000 Euro, vieles könne er mit seinen Büchern belegen, sagt er.Zu Beginn einer gesetzlichen Betreuung muss ein Vermögensverzeichnis erstellt werden, um dem Gericht darzulegen, welches Vermögen vorhanden ist. Im Fall von Hans Vriesen ist dieses jedoch fehlerhaft: Der Betreuer gab weder den Betrieb noch dessen Wert an. Uns gegenüber will sich der Betreuer dazu nicht äußern. Und das Amtsgericht Velbert, das für die Kontrolle zuständig war, schreibt uns, dass „nach Abschluss des Betreuungsverfahrens kein Anlass besteht auf eine Ergänzung oder Berichtigung des vorliegenden Vermögensverzeichnisses“ hinzuwirken.Für das Gericht ist der Fall abgeschlossen.Für Hans Vriesen nicht. Er will gegen den Betreuer in einem Zivilverfahren vorgehen und auf Schadensersatz klagen.
Hans Vriesen ist kein Einzelfall, immer wieder sorgt die Betreuung für Schlagzeilen. In Hannover wird aktuell gegen einen besonders schweren Fall von Betrug ermittelt: Eine Gruppe von Berufsbetreuern soll über zehn Jahre lang Vermögen von Senioren veruntreut haben, insgesamt 770.000 Euro. Wie ist so was möglich? Immerhin unterstehen sämtliche Betreuer der gerichtlichen Kontrolle.
Rolf Coeppicus war 20 Jahre lang Betreuungsrichter in Oberhausen und wirft vielen Amtskollegen Trägheit und mangelnde Kontrolle vor. „Die Betreuungstätigkeit ist unbeliebt. Besonders unbeliebt ist es, rauszufahren. Vor Ort zu fahren, sich den Betroffenen anzuhören – das mögen sie nicht“, berichtet Rolf Coeppicus. Besonders gravierend sei aus seiner Sicht die häufig fehlende Sachkunde von Richtern: Nach einem Jurastudium dürften sie plötzlich „Entscheidungen treffen auf dem Gebiet des Sozialwesens, des pflegerischen Wesens und in medizinischen Fragen“ – also in fachfremden Bereichen, kritisiert der ehemalige Amtsrichter.
Die Richter sind für die Kontrolle der Betreuer zuständig. Doch prüfen die Gerichte, ob ein Betreuer in mehreren Bezirken tätig ist und ob er zu viele Fälle betreut? Das Gesetz sieht diesbezüglich keine Obergrenze vor. Neun Amtsgerichte, die markt in NRW befragt hat, können überraschenderweise keine Auskunft darüber geben. „Hier wird gerne von den Berufsbetreuern gemauert“, antwortet beispielsweise das Amtsgericht Bochum auf unsere Nachfrage. Doch diese Zahlen sind für eine effektive Kontrolle unerlässlich – darauf hat der Landesrechnungshof schon 2004 hingewiesen. Bis heute, neun Jahre später, ist nichts passiert. Transparency International empfiehlt deshalb, die Zahl der Fälle pro Betreuer zu deckeln.
Für durchschnittlich neunhundert bis tausend Fälle im Jahr ist ein Richter zuständig. In einem Verfahren wegen Veruntreuung fand man heraus, dass für die Kontrolle der Betreuung 35 Minuten pro Fall pro Jahr zur Verfügung standen. Aus mangelnder Zeit ergäben sich Missstände, an denen niemand etwas ändern wolle, meint Claus Fussek, Deutschlands bekanntester Pflegekritiker: „Ein überforderter Richter, der vor Ort eine Lebensentscheidung für den Patienten trifft, hat keine Zeit und macht das im Schnellverfahren oder nach Aktenanlage, übergibt diese schwierige Lebenssituation einem wiederum überforderten Betreuer, der sagt: Ich kriege eine Pauschale, ich kann das nicht finanzieren. Und im System haben wir dann überforderte Pflegekräfte, überforderte ambulante Dienste. Also das System müsste eigentlich kollabieren, aber es funktioniert und läuft“, so der Pflegeexperte.
Die Missstände ändern kann nur die Politik – und jeder Einzelne, der Betreuungsverantwortung trägt. Die Betreuten selber können sich nicht wehren.