Richterliche Unabhängigkeit kein Freibrief für Willkür
Am gegenwärtigen Unmut über die Justiz in Deutschland sind nicht nur die umstrittenen, in der Öffentlichkeit vielfach scharf kritisierten Entscheidungen oberster Gerichte schuld. Anwälte und Rechtsuchende beklagen sich zunehmend auch über richterliche Willkür in der Alltagspraxis. Ins Fadenkreuz der Kritik ist vor allem die Handhabung einer Bestimmung der Zivilprozeßordnung (ZPO) geraten, die es den Amtsgerichten erlaubt, das Verfahren nach billigem Ermessen zu bestimmen, wenn der Streitwert 1200 Mark nicht übersteigt.
Eine mündliche Verhandlung findet in diesen Verfahren nur auf Antrag statt. Das mit seiner Verkündung oder Zustellung rechtskräftige Urteil, das keiner Kontrolle in höherer Instanz mehr unterliegt, ist nur dann schriftlich zu begründen, wenn die Entscheidungsgründe nicht aus dem Protokoll der etwaigen mündlichen Verhandlung zu ersehen sind.
Diese Gesetzesvorschrift (Paragraph 495a ZPO) soll den Richter im Interesse schneller und kostensparender Entscheidung die Möglichkeit geben, sein Verfahren den Gegebenheiten des Streitfalls anzupassen, etwa durch den Verzicht auf umfangreiche Beweisaufnahmen. Der Gesetzgeber wollte durch die Gewährung von Verfahrensfreiheit das Verantwortungsgefühl der Richter ansprechen.
Diese Erwartung erfüllt sich auch in zahlreichen Fällen, aber vielfach eben nicht. Die Untersuchung eines Hochschullehrers der Freien Universität Berlin hat nämlich in den Verfahren nach der zitierten Gesetzesvorschrift eine Häufung von Fehlern festgestellt, die durch den Freiraum des Gesetzes nicht gedeckt sind.
Die Bundesrechtsanwaltskammer folgert daraus, die Prozeßparteien seien durch eine ausartende Rechtspraxis nicht selten mehr oder weniger willkürlichen Verfahren und willkürlichen Entscheidungen ausgesetzt. …