In seinem Buch Spinnennetz der Macht beschreibt Jürgen Roth Deutschland als ein Land, das immer mehr in die Fänge einer skrupellosen Machtelite gerät, welche die staatlichen Apparate für ihre eigenen Zwecke einspannt. Ein Gespräch mit einem der letzten Recken des investigativen Journalismus.
Herr Roth, ist der Fall Gustl Mollath ein bedauerlicher Einzelfall in einem ansonsten funktionierenden, politisch unabhängigem Rechtssystem oder ist dies nur die Spitze des Eisbergs?
Jürgen Roth: Der Skandal um Gustl Mollath ist leider kein Einzelfall der lautlosen politischen Disziplinierung. Er ist aber aktuell der spektakulärste Fall und zwar auch nur deshalb, weil er durch nationale Medien und eine große Unterstützergruppe bekannt wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an den Fall der vier Steuerfahnder aus Hessen. Da ging es um Gefälligkeitsgutachten von Psychiatern, um unliebsame Beamte zu neutralisieren. – Gustl Mollath ist also durchaus kein Einzelfall. Es gibt inzwischen eine Vielzahl Fälle der Psychiatrisierung unbequemer Bürger, auch Querulanten genannt, die häufig von den Gerichten abgesegnet werden und von denen die breite Öffentlichkeit nichts erfährt. Was den Fall ja auch auszeichnet, ist die jahrelange totale Ignoranz der bayerischen Justiz auf allen Ebenen gegenüber dem offensichtlichen Unrecht gegenüber Gustl Mollath.
Wie hat sich das “Spinnennetz der Macht” etabliert, ausgebreitet und wie funktioniert es heutzutage? Wer gehört alles zu diesem Spinnennetz?
Jürgen Roth: Es gibt natürlich kein zentrales Spinnennetz der Macht, sondern unterschiedliche Spinnennetze auf lokaler wie auf Bundesebene. Damit beschreibe ich diejenigen elitären nichttransparenten Zirkel aus Wirtschaft, Justiz und Politik, die die konkrete Politik massgeblich bestimmen, beziehungsweise beeinflussen. Es sind immer die Interessen der neoliberalen Ideologie die durch sie in praktische Politik umgesetzt werden, beziehungsweise werden sollen. Wie die Praxis bis heute zeigt, sind sie ja damit sehr erfolgreich. Da gibt es die Initiative Soziale Marktwirtschaft (INSM), das Berggruen-Institut, die Lobbyorganisation WMP-Eurocom oder Consultum Communications, das American Council on Germany oder die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, um nur einige zu nennen.
“Zwei-Klassen-Justizsystem”
Ist Deutschland mittlerweile, wie der Vizepräsident des Bundeskriminalamts meint, zu einem “selektiven Rechtsstaat” verkommen?
Jürgen Roth: Selbstverständlich. Wer anderes behauptet, leugnet die Realität, wobei wir trotzdem immer noch besser aufgestellt sind als die meisten europäischen demokratischen Länder. Ich habe für das Buch mit über fünfzig Staatsanwälten, Kriminalisten, Rechtsanwälten und prominenten Professoren der Justiz gesprochen. Sie alle, von wenigen Ausnahmen abgesehen, sprechen von einem selektiven Rechtsstaat, einem Zwei-Klassen-Justizsystem. Das Rechtsstaatsprinzip ist zwar in bestimmten Teilen Deutschlands noch existent, aber es bröckelt gewaltig. Und genau das ist das Problem. In einem Bundesland, in Sachsen, scheint es wirklich nur noch ein Schattendasein zu führen. Das zeige ich ja in allen Varianten am Beispiel des Sachsensumpfes, den es offiziell natürlich nicht gibt, weil die heute vorhandenen Erkenntnisse von den Medien schlichtweg geleugnet werden.
Schauen Sie sich die Revisionspraxis des Ersten Strafsenats des Bundesgerichtshofs an. Da wird nur ein Prozent aller Revisionen überhaupt zugelassen. Das liegt doch nicht daran, dass die Anwälte, die eine Revision beantragen, alle Schwachköpfe sind. …