Der befangene Rechtsstaat und die NS-Vergangenheit der Justiz ohne Demokratisierungsprozess seit Jahrzehnten, 20.04.2010

Der befangene Rechtsstaat und die NS-Vergangenheit der Justiz ohne Demokratisierungsprozess seit Jahrzehnten, 20.04.2010
Im folgenden sollen diese beiden Aspekte am Beispiel der westdeutschen Justiz näher beleuchtet werden. Dabei richtet sich das Augenmerk sowohl auf den Umgang des Justizpersonals mit seiner eigenen „jüngsten“ Vergangenheit, als auch auf die Weichenstellungen und Zäsuren bei der Strafverfolgung nationalsozialistischer Verbrechen – eine Fokussierung also auf zwei zumeist unabhängig voneinander behandelte Themen, die von der These ausgeht, dass zwischen der personellen Kontinuität innerhalb der Justiz und dem Verlauf der Ahndungsaktivitäten in NS-Strafsachen ein virulenter Zusammenhang besteht.
…Auch an den Gerichten galten diese Richtlinien der Entnazifizierung – und fielen dort besonders ins Gewicht: In Westfalen waren nur sieben Prozent aller Richter nicht in der Partei gewesen, in Bremen durften sich lediglich zwei Richter ihre Robe wieder umhängen.
…Ohne auf den Widerstand der amerikanischen und britischen Offiziere zu stoßen, konnten die neu aufgebauten deutschen Justizverwaltungen statt dessen das sogenannte Huckepack-Verfahren durchsetzen: Für jeden nicht belasteten Richter durfte fortan ein belasteter eingestellt werden. Im Juni 1946 entfiel aber selbst diese Einschränkung. Die westlichen Siegermächte revidierten ihre Richtlinien soweit, dass alle früheren Juristen, die das Entnazifizierungsverfahren durchlaufen hatten, in den Dienst zurückkehren konnten. Nach Ansicht einiger Kritiker in den Reihen der Alliierten bedeutete diese Entscheidung nicht weniger als die Renazifizierung der Justiz in den Westzone. Nach diesem Dammbruch setzte der Rückfluß der Mehrheit des ehemaligen Justizpersonals ein. Und dies um so schneller, je großzügiger die Spruchkammern bald selbst Richter am Volksgerichtshof als Mitläufer entnazifizierten.
…Die Richter von Nürnberg sahen es als erwiesen an, dass der Staatssekretär und die anderen Angeklagten „die schmutzige Arbeit übernahmen, die die Staatsführer forderten“. Gegen Schlegelberger und Klemm sowie gegen die Sonderrichter Rothaug und Oeschey verhängte das Gericht lebenslange Haft, gegen sechs weitere Angeklagte Freiheitsstrafen von fünf bis zehn Jahren.
Sollten die amerikanischen Richter gehofft haben, ihr sorgfältiges Urteil und, gemessen an der Schwere der Verbrechen, maßvollen Strafen würde zu einem erkennbaren Nachdenken bei ihren deutschen Kollegen führen, so sahen sie sich rasch enttäuscht. Nicht nur fand der Juristenprozeß in den neuen rechtswissenschaftlichen Zeitschriften kaum Beachtung; symptomatisch für seine Ablehnung war, dass es nicht einmal zu einer Veröffentlichung der vollständigen Urteilsschrift kam – ein Manko, das übrigens erst 1996 behoben wurde. Auf dem Konstanzer Juristentag im Juni 1947, noch während des Nürnberger Juristenprozesses, trat die Abwehrhaltung des Berufsstandes offen zutage: Der Sprecher der Versammlung, der Lindauer Landgerichtspräsident Müllereisert, tönte, die in den Nürnberger Prozessen angewandten Rechtssätze seien nichts anderes als „ein Ausnahmerecht nur für Deutsche“, das allein dazu diene, „Rache am politischen Gegner zu nehmen“. Nicht weniger kühn waren die Worte des nordrhein-westfälischen Justizministers Artur Sträter, der versicherte: „In den Sondergerichten haben oft Männer gesessen, die unvorstellbares Leid verhindert haben.“ Auf Beifall stieß auch Sträters Apologie auf die Unabhängigkeit der NS-Justiz: „Der deutsche Richter in seiner Gesamtheit ist im Dritten Reich intakt geblieben, er hat nicht vor Hitler kapituliert.“
Auch die bald einsetzende Selbstamnestierung der deutschen Justiz konnte auf breite Zustimmung rechnen. Schon die bloßen Zahlen belegen den Mißerfolg einer strafrechtlichen Aufklärung des NS-Justizunrechts vor westdeutschen Gerichten: Von den insgesamt 15 Strafverfahren, die gegen belastete Juristen eröffnet wurden, wurden sieben Angeklagte rechtskräftig verurteilt, davon nur zwei Berufsrichter. Die rechtliche Konstruktion, auf denen die Freisprüche basierten, bildete eine spezifische Auslegung des Rechtsbeugungsparagraphen. An Stelle des bedingten Vorsatzes, der bei allen anderen NS-Tätern zur Verurteilung ausreichte, mußte den Richtern der direkte Vorsatz zum Verbrechen nachgewiesen werden – ein unmögliches Unterfangen. Sobald ein belasteter Jurist nämlich erklärte, als überzeugter Nationalsozialist habe er sein Handeln für Rechtens gehalten, konnte er mit Straffreiheit rechnen. Dabei hätte niemand besser als die Richter selbst hätte wissen müssen, dass auch in der NS-Zeit Mord und Totschlag gegen geltendes Recht verstießen. Bis zum Bundesgerichtshof fand sich in den richterlichen Entscheidungen eine spürbare Nähe, zuweilen sogar offene Kollegialität zu den Angeklagten. Die Gerichte brachten für deren frühere Rechtsprechung Verständnis auf, rechtfertigten dies als notwendigen Vollzug der NS-Gesetzgebung – und bestätigten damit die Argumentation der Unrechtsurteile erneut. …

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