Fall Oury Jalloh Neues Gutachten nährt alte Zweifel, tagesschau, 03.11.2021
Vor 17 Jahren verbrannte der aus Afrika stammende Asylbewerber Oury Jalloh in einer Polizeizelle in Dessau. Bis heute sind die genauen Hintergründe seines Todes unklar. Ein neues Gutachten kommt zu dem Schluss, dass der damals 36-Jährige mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zelle angezündet wurde.
Dafür wurde die Zelle 5 im Keller des Polizeireviers Dessau originalgetreu nachgebaut, um die Vorgänge aus dem Jahr 2005 in Echtzeit nachstellen zu können. Einzig eine Wand des Versuchsaufbaus bestand aus feuerfestem Glas, damit dahinter befindliche Kameras die Vorgänge in der Zelle festhalten können.
Der Version der Behörden zufolge entzündete sich Jalloh in seiner Zelle selbst, trotz Fixierung an seiner Matratze. Zu dem Zeitpunkt soll er unter Alkohol- und Drogeneinfluss gestanden haben.
Beim Versuch des Forensikers Peck wurde eine Person, die die gleiche Größe wie Jalloh hat, ebenfalls an einer Matratze festgebunden. Mehrere Anläufe haben laut Gutachten gezeigt, dass Jalloh nicht den Bewegungsspielraum gehabt hatte, um sich selbst anzuzünden.
Im weiteren Verlauf der Nachstellung wurde ein Dummy aus Schweinestücken und Schweinehaut mit den Körpermaßen von Jalloh auf der feuerfesten Matratze angezündet. Doch bei mehreren Versuchen gelang es nicht, dieselben Verbrennungsspuren zu hinterlassen, wie sie in Jallos Zelle aufgetreten waren. Erst als der Dummy mit 2,5 Litern Benzin übergossen und anschließend angezündet wurde, entstand ein Bild mit vergleichbaren Brandschäden. Auch der künstlich nachgestellte Körper habe sich in einem ähnlichen Zustand befunden wie die Leiche des Asylbewerbers.
Peck vertritt die Auffassung, dass die Abläufe in der Nacht des Geschehens 2005 und bei dem Versuch mit hoher Wahrscheinlichkeit übereinstimmen: Dass Jalloh also mit dem Benzin übergossen und dann angezündet wurde. Ohne Benzin wären aus Sicht des Forensikers ein solches Feuer und so starke Brandspuren nicht möglich gewesen.
Bereits in der Vergangenheit hatten andere Gutachten die Schilderung der Behörden in Zweifel gezogen. So kamen etwa im Jahr 2017 mehrere Sachverständige aus den Bereichen Brandschutz, Medizin und Chemie zu dem Schluss, dass ein Tod durch Fremdeinwirkung wahrscheinlicher sei als durch eigenes Verschulden. Rund zwei Jahre später erhoben zwei Sonderermittler in ihrem Bericht schwere Vorwürfe gegen die Polizei und zuständigen Behörden. Ihr Fazit: Von der Festnahme bis hin zur Nacht des Todes Jallohs sei so gut wie jede polizeiliche Handlung fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen. …
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Es ist ein Fall verschwundener Beweismittel und grotesker Gedächtnislücken. Einer, in dem sich Polizisten angeblich nicht mehr an Besprechungen erinnern, die nur wenige Tage zurückliegen. Einer, in dem nicht nur Dateien auf Polizeicomputern gelöscht wurden, sondern auch deren Sicherungskopien. Einer, in dessen Verlauf ein Richter feststellte, Beamte hätten „Aufklärung unmöglich gemacht“.
…Gemeinsam mit anderen sammelte er Spendengelder für eine zweite Obduktion, bei der herauskam, dass Jalloh vor dem Brand einen Nasenbeinbruch erlitt.
…Die Version der Polizei geht so: Am 7. Januar 2005 wird morgens in der Dessauer Innenstadt ein betrunkener 36-Jähriger in Gewahrsam genommen und aufs Revier gebracht, durchsucht, in den Keller geführt, dort an Händen und Beinen auf einer Matratze fixiert. Trotz Leibesvisitation hat der Mann es geschafft, ein Feuerzeug in die Zelle zu schmuggeln. Der Gefesselte reißt die Matratze auf, zieht das brennbare Innere nach außen, zündet es an. Er will so erreichen, dass Polizisten kommen und ihn losbinden. Als die Beamten den Brand bemerken und die Feuerwehr holen, ist es zu spät.
…Zwar stellten die Prüfer in ihrem Bericht etliche Rechtsbrüche der Polizisten fest. Jallohs Festnahme verlief illegal, er hätte nicht aufs Revier gebracht werden dürfen. Die Blutabnahme war ebenso rechtswidrig wie das Einsperren im Keller und seine Fixierung. Die Prüfer monierten bei den beteiligten Polizisten „eklatante Unkenntnis gesetzlicher Vorschriften“, Aussagen von Beamten seien „konstruiert und vorgeschoben“ oder „völlig unglaubhaft“.
…Die offizielle Version der Selbstanzündung kann schon deshalb nicht stimmen, weil Oury Jalloh im Moment, als das Feuer ausbrach, bereits bewusstlos war, möglicherweise fast tot. Davon ist der forensische Toxikologe Gerold Kauert überzeugt. Denn hätte Jalloh den Beginn des Feuers und das eigene Verbrennen bewusst miterlebt und hätte er, wie von der Polizei behauptet, tatsächlich noch über die Gegensprechanlage um Hilfe gefleht, hätte sein Körper massiv Stresshormone ausgeschüttet. Die aber fanden sich nicht. Auch typische Brandgase wie Kohlenmonoxid oder Blausäure konnten nicht im Körper nachgewiesen werden.
Dass sich ein Bewusstloser selbst nicht anzünden könne, sei doch eindeutig, sagt Gerold Kauert.
…Overath berichtet von einem Dessauer Polizisten, der sich an sie gewandt und erklärt habe, er sei damals zwar nicht dabei gewesen, doch er wisse, dass Oury Jalloh auf der Polizeiwache von mindestens fünf Beamten massiv verprügelt wurde. Ein halbes Jahr nach dem Gespräch wurde ein neues forensisch-radiologisches Gutachten veröffentlicht: Jalloh erlitt vor seinem Tod nicht nur einen Nasenbein-, sondern auch einen Rippenbruch sowie ein „Bruchsystem in das vordere Schädeldach“.
…Der Beamte, der die Kamera dabei hatte, behauptet vor Gericht, am fraglichen Tag habe es auf dem Revier einen Stromausfall gegeben, daher sei ausnahmsweise nicht gefilmt worden. Es gab keinen Stromausfall.
Der Brandschutt wird von Polizisten in Tüten verpackt. Diese werden erst drei Tage später dem Labor übergeben. In einer findet sich nun überraschenderweise ein zuvor angeblich übersehenes, angeschmortes Feuerzeug. Die Ermittler sagen: Das hat Jalloh benutzt. Untersuchungen ergeben, dass sich an dem Feuerzeug keine DNA-Spuren von Jalloh fanden, wohl aber eingeschmolzene Polyesterfasern, die weder zu Jallohs Kleidung, der Matratze oder sonst irgendeinem Gegenstand aus der Zelle passen.
„Wir wissen nicht, wo dieses Feuerzeug war, als es brannte, aber ganz sicher nicht in Zelle 5“, sagt Beate Böhler, die Berliner Anwältin von Jallohs Bruder…
…Auch ein mögliches Motiv hatte Folker Bittmann im Sinn. Vor Jalloh waren bereits zwei andere Menschen unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen: einer in Zelle 5, einer in unmittelbarer Nähe des Reviers, nachdem er dort entlassen wurde. Bittmann hielt es für denkbar, dass die Legende von der Selbstanzündung entworfen wurde, um keinen dritten Toten rechtfertigen zu müssen.
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