Unschuldig hinter Gittern, Welt am Sonntag, 14.04.2002
Eklatante Ermittlungsfehler aber von einem Justizirrtum kann in Bayern nicht die Rede sein.
Winfried Krames, Bayerrisches Landesjustizministerium: “Unschuldig in Haft sitzen Menschen bei denen man zB. nachher in einem Wideraufnahmeverfahren feststellt, dass sie in Wirklichkeit unschuldig waren und die Zahl dieser Fälle ist verschwindend gering” (Das Erste, Panorama, 23.08.2012).
“Toni” soll er geheißen haben, daran konnte sich das Mädchen noch erinnern. Und dass der Mann, der sie vergewaltigt hatte, irgendwo in Fichtelberg wohnte. Anton Windhager, genannt “Toni”, damals 33, war gerade bei der Gartenarbeit, als am 16. Oktober 1992, einem sonnigen Herbsttag, zwei Polizisten fragten, ob er wegen dieses Falles mit zur Wache kommen könne. Klar, sagte Windhager. Ob er schnell die Gartenkleidung wechseln könne, fragte er noch. Nicht nötig, in einer Stunde sei er wieder zurück, sagten die Beamten. Aus der Stunde wurden drei Jahre und vier Monate.
…Angefangen hatte alles damit, dass die 13-jährige Tanja R., die 15 Kilometer von Fichtelberg entfernt lebte, bei einer Familiengerichtssache von mehrfachem Missbrauch erzählt hatte – verübt durch ihre Brüder und einmal eben auch durch einen Bekannten. Das Jugendamt wurde eingeschaltet, die Brüder gestanden und die Suche nach dem Bekannten begann. “Toni” aus Fichtelberg, daran erinnerte sich Tanja bei der Polizei. Und dass der Mann ein paar Mal in der Familie zu Besuch gewesen sei, so auch am fraglichen Tag. Er habe in seinem Auto – einem silberfarbenen Audi – Bier holen wollen, da er den Weg zum Getränkeladen nicht wusste, sei sie mitgefahren. Auf dem Weg habe er sie dann vergewaltigt.
Toni Windhager aus Fichtelberg fuhr einen Audi – einen roten allerdings. Gesehen haben will er weder das Mädchen noch die Familie je zuvor in seinem Leben. Das sagte er auch vor Gericht. Doch in der sechsstündigen Verhandlung stand dann Aussage gegen Aussage. Tanja, die Windhager bei der Gegenüberstellung auf der Wache erkannt haben wollte, blieb unter Tränen bei der Version, dass er der Täter sei. Eine Gutachterin bestätigte die Glaubwürdigkeit des Mädchens, obwohl es nur einen Intelligenzquotienten von 73 besaß. Wann Windhager das Mädchen vergewaltigt haben sollte, konnte nicht mehr ermittelt werden, weswegen die Frage nach einem Alibi gar nicht gestellt wurde. “Irgendwann zwischen Ende 1990 und Anfang 1991” stellte das Gericht schließlich fest und fällte das Urteil: fünf Jahre Haft. Wäre er geständig gewesen, hätte er nur drei Jahre bekommen. Er scheiterte sowohl mit einer Revision als auch einem Wiederaufnahmeverfahren. Nach zwei Dritteln der Haft wurde er auf Bewährung freigelassen. Die ganze Zeit hatte seine Freundin zu ihm gehalten. Doch jetzt verließ sie ihn. Windhager habe sich verändert, sagte sie.
Eklatante Ermittlungsfehler seien damals passiert, sagt der Amberger Fachanwalt Wolfgang Münch, der für Windhager 1994 ein Wiederaufnahmeverfahren anstrengte. So sei Tanjas Mutter nicht richtig vernommen worden, vor der Gegenüberstellung sei dem Mädchen bereits ein Foto von Windhager gezeigt worden, und die Gutachterin hätte besser befragt werden müssen. Schließlich hatte diese gegenüber Münch später gesagt, dass Tanja durchaus den Täter verwechselt haben könnte.
Ende 1999 erfuhr Windhager, dass die inzwischen 19-jährige Tanja ihre frühere Aussage widerrufen und sich selbst wegen Falschaussage angezeigt hatte. Nicht Windhager habe sie vergewaltigt, sondern der damalige Freund ihrer Mutter, sagte Tanja nun plötzlich aus. Weil er ihr mit Gewalt gedroht habe, falls sie die Wahrheit sagen sollte, erfand sie eben den “Toni” aus Fichtelberg. Erst ihr jetziger Freund habe ihr klargemacht, dass sie die Wahrheit sagen müsse. Sie wurde daraufhin zu zwei Jahren auf Bewährung wegen Falschaussage verurteilt. Mehr als Erleichterung über Tanjas Geständnis empfand Windhager eine ohnmächtige Wut, weil sie es erst so spät abgelegt hatte. Es dauerte nochmal ein Jahr, bis er in einem Wiederaufnahmeverfahren endlich freigesprochen wurde.
Am vergangenen Montag bekam Windhager nun Bescheid über seine Haftentschädigung: insgesamt 21.000 Euro. Keine Entschuldigung der Polizei oder Staatsanwaltschaft, kein Brief des Bedauerns. Schlimmer noch: Für Kost und Logis im Gefängnis wurden ihm Abzüge berechnet. Für den Verdienstausfall in den Jahren der Gefangenschaft, in denen er seiner Arbeit nicht nachgehen konnte, wurde nicht etwa das Gehalt als Kraftfahrer zu Grunde gelegt, das er sieben Jahre ohne Unterbrechung bezogen hatte, sondern das Arbeitslosengeld, das er zum Zeitpunkt seiner Verhaftung erst seit drei Monaten bekam. Auch eine Entschädigung wegen Rufschädigung bekommt er nicht, denn Schadenersatz könnte er höchstens bei Tanja geltend machen, doch die ist vor zwei Jahren an einer Überdosis Drogen gestorben.
“So ist leider die Gesetzeslage”, heißt es beim bayerischen Justizministerium. Im Einzelfall könne das durchaus hart klingen. Aber von Justizirrtum könne nicht die Rede sein. Denn schließlich habe das Mädchen Windhager als Täter identifiziert. “Wie hätte die Öffentlichkeit reagiert, wenn der Richter ihn trotz dieser Aussage freigesprochen hätte”, fragt auch Lutz Hobold, von der damals zuständigen Staatsanwaltschaft Weiden.
Anton Windhager hilft das alles wenig. Er weiß nur, dass er viele Jahre seines Lebens verloren hat, ebenso wie das Vertrauen – in den Rechtsstaat und in die Menschen. “Von heute auf morgen kann dir alles passieren. Sicherheit gibt es für mich nicht mehr”, sagt er verbittert.