Gefängnisalltag in Deutschland, Weggesperrt und vergessen. Gewalt, Drogen und Kleinkrieg, 15.01.2013

Gefängnisalltag in Deutschland Weggesperrt und vergessen, spiegel-online, 15.01.2013

Gewalt, Drogen, Kleinkrieg mit der Anstaltsleitung: Ex-Häftling Christian C. schildert den Alltag im Knast – er steht mit seinen Erfahrungen nicht allein da. Untersuchungen belegen, dass sich der Strafvollzug längst vom Ziel der Resozialisierung verabschiedet hat.


…Viele Experten befürchten, dass der Strafvollzug in seiner jetzigen Form erheblichen Schaden anrichtet. Wer aus dem Knast kommt, fremdelt mit der Gesellschaft oft mehr als jemand, der ins Gefängnis geht. Ein Viertel aller Häftlinge muss wie C. erneut in den Knast. Dennoch kommen in der Öffentlichkeit Parolen wie “Wegsperren” besser an als das Eingeständnis, dass Menschen hinter Gittern schlimmere Taten begehen als jene, die sie überhaupt erst in den Knast gebracht haben.

Davon kriegt die Öffentlichkeit nur wenig mit. Aus Gefängnissen dringt meist nur etwas nach außen, wenn ein Gefangener flieht oder stirbt. Die JVA Kassel und die Jugend-JVA Hameln gerieten in die Schlagzeilen, weil Insassen ums Leben kamen oder von Mitgefangenen misshandelt worden sein sollen.

Von Behördenseite ist die Selbstkritik am Strafvollzug bestenfalls zaghaft. Schließlich setzen Gefängnisse nach offiziellem Verständnis die Vorgaben von Paragraf 2 des Strafvollzugsgesetzes um: “Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen”, heißt es dort.

Viele von C.s Erfahrungen lassen diesen Anspruch wie Hohn aussehen. Er hegt keinen Groll gegen die Justiz. Bei seinen Verfahren sei Recht gesprochen worden, zudem habe er im Knast eine Ausbildung als Industriemechaniker und eine IHK-Weiterbildung machen können, staatlich finanziert. C. ist nicht verbittert, hat keine Rechnung mit dem Strafvollzug offen. Deshalb ist er geeignet, über die Verhältnisse im Knast zu berichten.

Und er hat viel zu erzählen. Zum Beispiel über Hierarchien in einem System, in dem eigentlich alle Häftlinge gleich sein sollen. Hinter Gittern, erzählt C., gibt es eine Parallelgesellschaft. Ganz unten stehen die Sexualstraftäter, verachtet wegen ihrer Taten. “Die machen alle einen auf unschuldig”, sagt C. Das sei Selbstschutz, um sich dem Zorn anderer Gefangener zu entziehen.

Kaum besser geht es jenen, die kein Geld und keine Beziehungen im Knast oder nach draußen haben, nichts organisieren können. Auf dem Schwarzmarkt gibt es Drogen, Tabak, Kaffee – und wer seine Schulden nicht begleichen kann, lebt gefährlich. C. hat erlebt, wie sechs Leute um einen Mann herumstanden und auf ihn eintraten, Vergeltung für offene Schulden. Besonders mit Russlanddeutschen, Türken und Arabern lege man sich besser nicht an, so C.

Die Subkultur reguliert sich selbst, die Anstaltsleitungen bleiben fast immer ahnungslos. “Die Beamten haben keine Chance, mitzukriegen, was in der Zelle geschieht. Wenn der Stärkere beschließt, ich drücke auf dem Schwächeren ein paar Kippen aus, macht der das”, sagt C.

C.s Beobachtungen sind subjektiv, aber keinesfalls untypisch. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) hat in einer Studie Gewalt von Gefangenen untereinander erfragt. Von knapp 6400 Befragten gaben mehr als 15 Prozent der männlichen Gefangenen an, Drogen zu konsumieren, bei Jugendlichen lag die Quote über 20 Prozent. Rund ein Viertel der Männer und Frauen sowie fast die Hälfte der jugendlichen Gefangenen behaupteten, körperliche Gewalt erfahren zu haben. 4,5 Prozent der Männer, 3,6 Prozent der Frauen und 7,1 Prozent der Jugendlichen berichteten, Opfer sexueller Gewalt geworden zu sein. Seltener, aber keine Ausnahme waren Knochenbrüche, innere Verletzungen oder offene Wunden.

Nur wenige Übergriffe werden der Studie zufolge offiziell angezeigt. Die Gründe sind vielfältig: Der Wunsch, nicht als Verräter zu gelten, weil der Knast-Codex vorschreibt, dass man niemanden verpfeift. “Wer jemanden verzinkt (verpfeift, d. Red.), kriegt auf die Fresse”, sagt C. Oder die Sorge, von der Anstalt als Lügner abgestempelt zu werden.

Gefangene können sich nirgends sicher fühlen. Übergriffe finden in der Zelle statt, bei der Arbeit, auf Flur oder Treppe, während der Freistunde, beim Sport oder auch im Waschraum. Mancher Häftling verzichtet laut der KFN-Untersuchung auf den Hofgang oder Sport, um sich keiner Gefahr auszusetzen. Und die meisten sind wie C. froh, wenn sie in einer Einzelzelle sitzen, was eigentlich vorgesehen, aber bei etwa einem Drittel der Inhaftierten nicht der Fall ist.

An spätere Zellengenossen schon. C. wollte lesen, der Mithäftling fernsehen. Wenn eine Doppelzelle kaum zehn Quadratmeter groß ist, sind Kompromisse schwierig. Da wird die Stimmung schnell so aggressiv, dass C. sich freiwillig in den “Bunker” – eine Zelle ohne jeden Komfort – bringen ließ, um zu verhindern, “dass ich mit meinem Zellengenossen die Wand abwische”.

Zur Entspannung tragen auch die hygienischen Verhältnisse nicht bei. Gestank sei eben dauerhaft schwer zu vermeiden, sagt C., wenn man zweimal die Woche duschen dürfe und die Toilette direkt im Raum sei, oftmals ohne jede Abtrennung. “Wenn der andere im Bett liegt, mag ich mich nicht aufs Scheißhaus setzen.”

Dass hygienische Probleme in Gefängnissen häufiger vorkommen, belegt der aktuellste verfügbare Bericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter. Darin heißt es etwa über einen besonders gesicherten Haftraum in der Jugendstrafanstalt Berlin: “Die Schaumstoffmatratze wird ohne Überzug verwendet. Sie wies zahlreiche undefinierbare Flecken auf und war übersät mit toten Insekten. Die Toilette und der Trinkwasserspender waren völlig verdreckt.” Die Missstände sollen laut Berliner Senatsverwaltung behoben worden sein.

Manche Gefangene reagieren auf die Verhältnisse und die alltägliche Langeweile, indem sie abstumpfen. Andere stehen im Dauerkonflikt mit der Gefängnisleitung. “Manch einer überlebt die Haftzeit dadurch, dass er sich diesem Kampf stellt”, sagt Christine Graebsch vom Strafvollzugsarchiv. Das Forschungszentrum ist seit Jahrzehnten Anlaufstelle für Häftlinge, die sich ungerecht behandelt fühlen – die Korrespondenz umfasst Tausende Briefe.

“Die Gefangenen müssen um jede Kleinigkeit kämpfen, deshalb bekommen Kleinigkeiten auch eine enorm große Bedeutung”, sagt Graebsch. Bekomme ich Ausgang? Darf ich eigene Kleidung tragen? Wieso werden Briefe nicht weitergeleitet? Alles, was ein wenig Freiheit verspricht, ist wertvoll. “Gefangene setzen so etwas manchmal gerichtlich durch, aber nicht selten ignorieren die Anstalten solche Urteile”, sagt Graebsch. Und oft demonstrieren die JVA-Bediensteten ihre Macht. “Es gibt richtige Arschlöcher, die fühlen sich als Gott. Sie haben den Schlüssel und damit die Macht. Die haben einfach Spaß daran, ‘nein’ zu sagen”, sagt C.

…Würde er sich als resozialisiert bezeichnen? C. dreht sich eine Zigarette, als Filter ein Streifen zusammengerollte Pappe. Dann sagt er: “Ich bin kein besserer Mensch geworden.”

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