DEUTSCHLANDFUNK; Redaktion: Ulrike Bajohr
Mord ohne Leiche. Ein Verurteilter will seine Unschuld beweisen.
Andreas W., 55 Jahre alt, sitzt seit zehn Jahren im Gefängnis, verurteilt zu lebenslanger Haft wegen Mordes an einem Geschäftspartner, eine besonders brutale und verwerfliche Tat, so das Gericht.
Aber es gibt keine Leiche, keine Tatwaffe, keine Zeugen des Verbrechens.
Bernhard Haffke, Verteidiger von Andreas Werner:
Das Rechtsmittelsystem in Deutschland ist sehr merkwürdig ausgestaltet, nämlich bei den kleinen Delikten, wenn ich das mal so nennen darf, ist es so, dass wir sogar unter Umständen vier Instanzen haben, dagegen bei den Kapitaldelikten, also insbesondere Mord, Totschlag oder alle vorsätzlichen Delikte mit Todesfolge, nur zwei Instanzen, wobei die zweite Instanz keine Berufung ist, sondern eine Revision, es findet also nur eine Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils auf Rechtsfehler und Verfahrensfehler hin statt. Der wichtigste Wiederaufnahmegrund ist das Vorliegen neuer Tatsachen und neuer Beweismittel. Und diese neuen Tatsachen und Beweismittel sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass sie neu sein müssen.
Das ist regelmässig eine ganz erhebliche Klippe. Und zweitens müssen sie, so drückt es das Gesetz aus, geeignet sein, den Urteilsspruch zu erschüttern. Beides sind erhebliche Hemmschuhe. Erstens finden Wiederaufnahmeverfahren wegen dieser Klippen sehr, sehr selten statt. Und zweitens sind sie sehr, sehr selten erfolgreich, also man kann bei spektakulären Fällen sicher von 1:100 sprechen.
Neue Tatsachen und Beweismittel sind z.B. eine Falschaussage, ein Geständnis des tatsächlichen Täters, ein das Urteil erschütterndes Gutachten oder neue DNA-Spuren. Die hohen rechtlichen Hürden sowie ein grosser finanzieller Aufwand reduzieren die Chancen, sich gegen ein falsches Urteil erfolgreich zur Wehr zu setzen. Hinzu kommt eine Justiz, die nur selten Fehler eingesteht. Die Zahl der Wiederaufnahmeverfahren ist so gering, dass weder das Statistische Bundesamt noch die Justizministerien Statistiken führen. Dabei wären Angaben über die Erfolgsaussichten gerade dieser Verfahren interessant, geht es doch um hohe Haftstrafen und die Zerstörung menschlicher Existenzen. Der Kriminologe und Strafrechtsexperte Holm Putzke konstatierte vor Jahren:
Es wäre beschönigend, den Weg eines Wiederaufnahmeverfahrens nur als “steinig” zu bezeichnen – “vermint” wäre schon zutreffender. In der rechtswissenschaftlichen Literatur werden sowohl die restriktive Handhabung durch die Gerichte als auch die engen Voraussetzungen eines Wiederaufnahmeverfahrens überwiegend kritisiert. Es handelt sich um ein durchaus brisantes und für viele Verurteilte auch relevantes Thema. Nur erfährt hiervon die Öffentlichkeit nichts. Mehrheitlich ist zu beobachten, dass rechtskräftigen Urteilen mit kritikloser Gläubigkeit begegnet wird. Wer daran rüttelt, bringt Unruhe ins System und schwächt den verbreiteten Volksglauben an eine unfehlbare Justiz.
Gilt der Grundsatz in dubio pro reo auch für das Wiederaufnahmeverfahren, d.h. wie ist sozusagen die Beweislast im Wiederaufnahmeverfahren verteilt? Diese Frage ist leider sehr umstritten, also im Zweifel gegen den Angeklagten? Diese ganze rechtswissenschaftlich noch nicht hinreichend geklärte Frage ist nach wie vor offen.