Massnahmenvollzug in Österreich ist zum Schandfleck der Justiz verkommen, 15.07.2013

Gefängnis: Der Maßnahmenvollzug ist zum Schandfleck der Justiz geworden, 15.7.2013

Noch nie wurden psychisch kranke Straftäter so hemmunglos weggesperrt wie heute. Der Maßnahmenvollzug, einst eine sinnvolle Idee, ist zum Schandfleck der heimischen Justiz geworden.

Die Krankheit schlich sich leise an. Johann Berth* ging nicht mehr in die Schule, redete wirr und verschwand in einem Kokon aus Fantasien, die immer wüster wurden. Ein paar Jahre später stach er auf seinen Großvater ein. Etwas in seinem Kopf hatte ihm gesagt, er müsse die Großmutter vor ihm schützen.

Das Gericht wies den jungen Mann in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher ein, weil zu befürchten war, “dass er sonst unter dem Einfluss einer geistigen oder seelischen Abartigkeit eine mit Strafe bedrohte Handlung mit schweren Folgen“ begehen würde. Das war 1995.

Johann Berth traf die härteste Sanktion, die das Strafrecht zu bieten hat. Der Maßnahmenvollzug war im Zuge der Strafrechtsreform 1975 eingeführt worden, um die Gesellschaft zu schützen und Psychopathen zu helfen. Seither werden Menschen wie Johann Berth weggesperrt, bis keine Gefahr mehr von ihnen ausgeht. Das kann – im Extremfall – lebenslang bedeuten.

Aus der wohlmeinenden Idee “Therapie statt Strafe“ ist mittlerweile der Schandfleck des Justizsystems geworden. 850 Menschen befinden sich im Maßnahmenvollzug, etwa die Hälfte davon, weil sie – so wie Johann Berth – im Wahn zu einem Verbrechen getrieben und nach Paragraf 21 Absatz 1 Strafgesetzbuch verurteilt wurden. Die andere Hälfte, im Justizjargon “Zweier“, war bei der Tat zurechnungsfähig, stand aber unter dem Einfluss einer psychischen Krankheit.

Während die Zahl der regulären Strafgefangenen seit 20 Jahren annähernd gleich blieb, hat sich die Zahl der Maßnahme-Häftlinge vervierfacht. Sie rangieren in der sozialen Rangordnung weit unten und bleiben immer länger hinter Gittern. Die Dauer stieg von durchschnittlich 3,5 auf fünf Jahre. “Das ist eine menschenrechtliche Schweinerei, die niemanden aufregt, weil die Betroffenen keine Lobby haben“, sagt der Grüne Justizsprecher Albert Steinhauser.

Nicht die Gesellschaft ist verrückter geworden, sondern ihr Umgang mit gefährlichen psychisch Kranken. Das Sicherheitsbedürfnis habe sich bis zur Hysterie gesteigert, sagen Experten. Gutachter, Richter und Anstaltsleiter hielten sich an die Devise: Lieber ein paar Pechvögel zu viel im Maßnahmenvollzug als ein Unhold zu wenig. “Es ist freilich schwer, die Gefährlichkeit eines Menschen vorherzusagen“, sagt die forensische Psychiaterin Gabriele Wörgötter: “Aber heute geht man für die Freiheit des Einzelnen nicht einmal mehr das kleinste Wagnis ein.“

Vor allem der 21/2 wird exzessiv missbraucht. Heidi Kastner, Leiterin der forensischen Abteilung in der Linzer Wagner-Jauregg-Nervenklinik, empfahl als Gutachterin, die Eissalon-Mörderin Estibaliz C. nach 21/2 zu verurteilen, weil die Frau aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung nicht in der Lage sei, Beziehungen normal zu beenden. Der Ausweg bestehe für sie in der “Elimination des Hindernisses“, schrieb Kastner. Allerdings werde die Gesetzesstelle zu oft bemüht, kritisiert die Expertin gegenüber profil. Sie erinnert sich an einen besonders kuriosen Fall: Einer ihrer Patienten brach nachts in Supermärkte ein, um Leergut zu stehlen: “Er landete auch im Maßnahmenvollzug, wo die gefährlichsten Menschen sein sollten, die es im Land gibt.“

Psychopharmaka wurden besser, Diagnose-Werkzeuge genauer, die Rückfallquoten sanken. Nur zehn Prozent der Ex-Insassen kommen in die Maßnahme zurück, davon rund 30 Prozent, weil sie eine gerichtliche Weisung gebrochen haben. Warum werden trotzdem so viele psychisch Kranke eingesperrt wie noch nie?

Johann Berth wurde 1996 ins Otto Wagner Spital eingewiesen, nachdem ihm zwei Gutachter Schizophrenie attestiert hatten. Nach acht Jahren im Pavillon 23 am Wiener Steinhof wurde sein Vollzug gelockert. Er faltete Schachteln in der Buchbinderei am Steinhof. Abends fuhr er in seine kleine Gemeindewohnung. Das ging gut, bis er sich 2007 verliebte und die Tabletten absetzte, die ihn zwar träge machten, aber seine Wahnideen linderten.

Sein Bruder alarmierte das Spital, dieses wiederum das Gericht. Danach geschah nichts mehr und Johann Berth wurde am 8. August 2008 entlassen. Ohne Auflagen. Ein Mal noch holte er seine Depotspritze, dann tauchte er ab. “Es war wie 1995, bevor er den Großvater attackiert hat. Ich habe gespürt, wie schlecht es ihm geht, und versuchte, Hilfe zu holen, aber niemand fühlte sich zuständig“, erzählt sein Bruder.

Das änderte sich am 2. Jänner 2009, als Johann Berth einem Passanten die Geldbörse raubte und im Maßnahmenvollzug in Göllersdorf landete. Mehrmals erwähnte er, Ausgänge in die Stadt seien ausgefallen, weil das Personal zur Begleitung fehlte. Nach zwei Jahren suchte sein Bruder nach einem betreuten Wohnheim. Johann Berth war 15 Jahre lang gefangen gewesen, er brauchte jemanden, der auf ihn aufpasste. Im Frühjahr wurde er mit einem Lungeninfekt ins AKH Wien eingeliefert. Als er wieder zu Bewusstsein kam, konnte er nicht mehr sprechen. Er starb vor drei Monaten im Alter von 41 Jahren.

Sein Tod stellt ein System an den Pranger. Psychiaterin Dagmar K. ist überzeugt, Johann Berth könnte noch leben, hätte man ihn 2008 nicht ohne Netz entlassen: “Die Psychiatrie behält Patienten zwei Wochen, dafür dauert der Maßnahmenvollzug ewig. Dazwischen gibt es nichts.“ Werden kranke Menschen auf die Straße gestellt und bedrohen dann, nur zum Beispiel, einen Polizisten, schlägt der Rechtsstaat mit voller Härte zu.

Martin Kitzberger, 36, leitet das Forensische Zentrum Asten bei Linz. Vergangenen Donnerstag stand im Foyer ein Rollwagen mit den Habseligkeiten der zwei Neuen, die aus der Psychiatrie in Mauer-Öhling überstellt worden waren. Nun sind alle 91 Betten belegt. 70 Prozent der Insassen sind schizophren. Überwacht werden sie von Sozialarbeiterinnen und Pflegern in verglasten Kontrollkanzeln. Die Justizwache passt am Eingang auf, in den offenen Wohnbereichen lassen sich die Uniformierten nur blicken, wenn jemand durchdreht.

“Das kommt zwei, drei Mal im Jahr vor“, sagt der Anstaltsleiter, der Germanistik, Philosophie und Humanbiologie studiert hat und mit seiner Jeans und der Schlüsselkette wie ein in die Jahre gekommener Skater aussieht. Kitzberger redet von “Klienten“ statt von Häftlingen: “Wenn wir schauen, dass alle bekommen, was sie brauchen, haben sie weniger Stress und sind weniger gefährlich.“ Ein Drittel erprobt sich im gelockerten Vollzug und darf auch einmal unbegleitet durch Linz spazieren.

Petzbub spricht breites Kärntnerisch, hat ein kindliches Gemüt und die Kraft eines ausgewachsenen Mannes. Eines Nachts hatte er mit dem Messer auf seine Mutter eingestochen. Er holt eine Zeichnung, die er für sie gemacht hat. Im Fitnessraum trainiert ein Mann am Laufband, dem zwei Gutachter Schizophrenie attestiert hatten, was ihn so erzürnt wie fast alles hier im Haus: “Schauen Sie mich doch an, sehen Sie etwas?“ Ein 73-Jähriger schlurft vorbei, der vor 17 Jahren seinem Bruder mit dem Tod drohte, weil dieser ihm angeblich Gewand gestohlen hatte. Ein Zimmer weiter lebt ein von den Zeugen Jehovas zum Buddhismus konvertierter Vorarlberger. Er war lange in Göllersdorf gewesen, nachdem er einer Frau gegen 5000 Schilling geholfen hatte, sich die Pulsadern aufzuschneiden. In Asten, wo bald sein drittes Jahr beginnt, sei alles viel “schöner, heller und neuer“.

Es ist das Renommierhaus des Maßnahmenvollzugs. Doch auch hier werden Menschen angehalten, die anderswo besser aufgehoben wären. Für den 73-Jährigen wird ein Platz in einem Pflegeheim gesucht. Ums Geld geht es dabei mindestens so wie um die Menschenwürde. “Neun Prozent der Maßnahme-Insassen verursachen 19 Prozent der Ausgaben des Strafvollzugs“, heißt es in einem Rechnungshofbericht 2010. “Wegen fehlender Kapazitäten wurde ein Drittel der Insassen in psychiatrischen Krankenanstalten untergebracht. Die Kosten pro Tag und Insasse betrugen dort bis zu 624 Euro gegenüber rund 162 Euro in Göllersdorf.“

Sparen kann die Justiz nur bei sich selbst. Je weniger Pfleger und Therapeuten verfügbar sind, umso länger dauert es bis zur Entlassung. Psychisch kranke Rechtsbrecher brauchen Beschäftigung, Struktur, Therapie, sprich jede Menge Personal. “Werkstätten stehen oft leer, weil die Betreuung fehlt“, erzählt Psychiater Hans Schanda, der bis zu seiner Pensionierung im Jänner die Psychiatrie in Göllersdorf leitete. Am Mittersteig in Wien-Margarethen, einer Spezialanstalt für Delinquenten nach Paragraph 21 Absatz 2, sieht es nicht besser aus: Die häufigste Diagnose hier ist Persönlichkeitsstörung, jedes zweite Delikt eine Sexualstraftat. Kürzlich wurde der Beginn der Nachtschicht um eine Stunde auf 15 Uhr vorverlegt – aus Spargründen. Angespannt ist die Lage schon länger. Laut Rechnungshof waren Ende 2009 über 60 Straftäter noch nicht einmal erstbegutachtet, “obwohl sie jahrelang im Maßnahmenvollzug waren“.

Als der Grüne Steinhauser im Vorjahr per parlamentarischer Anfrage wissen wollte, wie lange “Zweier“ über das Strafausmaß hinaus sitzen, händigte ihm die Justizministerin eine erschreckende Statistik aus: Bei manchen Häftlingen waren es mehrere tausend Prozent. Hinter diesen Daten stehen Menschen wie Erich Neuner*, der wegen Besitz und Weitergabe von Kinderpornos zu neun Monaten Gefängnis verurteilt und aufgrund einer Persönlichkeitsstörung seit fünf Jahren im Maßnahmenvollzug sitzt. Bis heute war er noch kein einziges Mal auf Freigang.

Das Wiener Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie legte in einer Studie die Mängel des Maßnahmenvollzugs bloß. Einer von vielen besorgniserregenden Befunden: Nicht Mörder und Serienvergewaltiger, sondern “Droher und Nötiger“ stellten 2010 die größte Gruppe von Untergebrachten nach 21/1 dar. Manchmal genügen Sätze wie “Ich bring dich um“, um jahrelang hinter Gittern zu verschwinden. “Die Wahrscheinlichkeit einer Einweisung steigt, wenn das Delikt gegen Polizeibeamte gerichtet ist“, so Studienautor Wolfgang Stangl. Im Justizressort nahm man den Befund zur Kenntnis. Passiert ist seither nichts, sieht man davon ab, dass in Asten um 48 Plätze aufgestockt wird.

Bernhard K., 39, hat seinem Psychiater E-Mails geschickt, in denen stand: “Wieso bist du noch nicht tot?“ Bei seiner Verhaftung soll er einen Beamten gestoßen haben. Außerdem wurden zwei Präzisionsschleudern und ein Springmesser bei ihm sichergestellt. Im Oktober 2000 wurde er wegen gefährlicher Drohung, versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt und Verstoßes gegen das Waffengesetz zu sechs Monaten Haft verurteilt. K. landete im Maßnahmenvollzug. Seine Diagnose: paranoid-schizophren. Da er keine Krankheitseinsicht zeigte, wurde seine Haft wieder und wieder verlängert. Nach elf Jahren kam er auf Bewährung frei. Sein Fall wird im Buch “Staatsgewalt. Die Schattenseiten des Rechtsstaates“ der Juristen Katharina Rueprecht und Bernd-Christian Funk geschildert. Es bestünden “erhebliche Zweifel, ob in diesem Fall die einschlägigen Verfahrensregeln ausreichend beachtet wurden“, schreiben die Autoren.

Richter befinden darüber, wer im Maßnahmenvollzug landet. Dabei stützen sie sich oft auf Gutachten von bestürzend schlechter Qualität, wie eine Studie der Universität Ulm ergab. 200 Dossiers über Sexualstraftäter nahmen die Forscher unter die Lupe: Ein Großteil erging sich in moralischen Erörterungen. Das liegt nicht nur – aber auch – an der Bezahlung. 200 Euro darf ein Sachverständiger verrechnen, mit Anreise und Kopierkosten sind es 400. Eine Expertise über einen Verbrennungsmotor kostet das Zehnfache. Als vor wenigen Wochen Kapazitäten aus dem deutschsprachigen Raum zum Symposium “Strafverteidigung und Sicherheitswahn“ nach Zürich reisten, war der Tenor einhellig: Die Missstände stinken zum Himmel.

Jede Gesellschaft hat ihren Ort der Verbannung, meinte der französische Philosoph Michel Foucault. “Bei uns ist das die Forensik“, sagt Florian Engel, Experte in der Vollzugsdirektion. Nur ein Drittel der Häftlinge sei im Maßnahmenvollzug richtig untergebracht. Ein Drittel könnte für den gelockerten Vollzug vorbereitet werden. Der Rest wäre zu entlassen, wenn die Länder bei der Nachbetreuung mitspielten: “Viele Menschen bleiben so lange, weil es keine Plätze in Pflegeheimen oder betreuten Wohneinheiten gibt.“ Das schreit nach einer politischen Debatte. Doch bei der für 2015 anvisierten Strafrechtsreform bleibt das Thema ausgeklammert.

In den Ländern grassiert indes dumpfer Populismus. “Maissau atmet auf“, titelten die “Niederösterreichischen Nachrichten“ vor einem Monat, als eine Initiative aus dem Bezirk Hollabrunn ein Wohnprojekt für psychisch kranke Rechtsbrecher zu Fall gebracht hatte. Die Lobby der Betroffenen ist nicht annähernd so laut.

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