Das Amtsgericht Nürtingen hatte in seinem Urteil vom 23.4.2009 (16 OWi 73 Js 13396/09) in einer Bußgeldsache über eine Standard-Vollmachtsfrage zu entscheiden: Der Verteidiger hat seine Bevollmächtigung anwaltlich versichert, aber keine entsprechende Vollmachtsurkunde zur Akte gegeben. Die Bußgeldbehörde hat ihm, dem Verteidiger, den Bußgeldbescheid gleichwohl zugestellt. War diese Zustellung nun wirksam?
Na selbstverständlich, meinte der Richter am Amtsgericht Nürtingen, und bemühte seinen Bauch, statt seinen Kopf, um das Urteil zu begründen. Gemäß dem Grundsatz: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf!“ konnte die Zustellung gar nicht unwirksam sein, weil ansonsten ja die Tat verjährt wäre.
Richter Carsten Krumm, der sich als kompetenter Verkehrsrechts-Experte bei Beck Online einen guten Namen gemacht hat, hält die Entscheidung für richtig, gratuliert dem Gericht und titelt in im Beck-Blog:
„Rechtsmissbrauch“: Vollmachtstrick des Verteidigers gut ausgebremst.
und formuliert einen Leitsatz:
Ein Verteidiger, der seine Bevollmächtigung versichert und gegenüber der Verwaltungsbehörde als solcher auftritt, kann sich im Bußgeldverfahren nicht auf eine fehlende schriftliche oder beschränkte Vollmacht berufen. Zustellungen an ihn sind wirksam.
Wenn man sich das Urteil allerdings einmal genauer anschaut, erkennt man die groben Fehler, die man dem Nürtinger Richter vorwerfen kann (und sollte!). Die zitierten Entscheidungen passen nicht zu dem zu entscheidenden Fall. Der Gesetzeswortlaut spricht eindeutige Worte, die mit dem Urteil nicht in Einklang zu bringen sind.
Die beiden Kommentare, die andere Verkehrsrechtsrechts-Experten, nämlich Rechtsanwalt und Fachwalt für Verkehrsrecht Jürgen Melchior und Richter am Oberlandesgericht a.D. Detlef Burhoff, zu dem Beitrag von Herrn Krumm abgegeben haben, zeigen auf, daß das Urteil aus Nürtingen unbrauchbar ist.
Die Rechtsmittel gegen solche Fehlurteile sind eng begrenzt. Das weiß der Richter auch. Im Normalfall geht ein Richter mit dem blauen Himmel, der sich über ihm auftut, sorgsam um. Anders scheint es wohl am Amtsgericht Nürtingen zuzugehen.
Rechtsanwalt Andreas Jede zitiert in seinem Kommentar zu jenem Beitrag den Juristen Rudolf von Jhering mit den Worten:
„Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. Feste Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit selber und eine Schutzwehr gegen äußere Angriffe, – sie lassen sich nur brechen, nicht biegen.“
Bruch formellen Rechts, das ist das, was auch ich dem Richter am Amtsgericht Nürtingen vorwerfen möchte. Und das ist eben in meinen Augen Rechtsmißbrauch. Ein Verteidiger, der keine Vollmacht zur Akte reicht, handelt nicht rechtsmißbräuchlich, sondern macht die gute Arbeit, die sein Mandant von ihm erwarten darf.