…Wolfgang Naucke, der sich in einer kleinen, aber gehaltvollen Schrift mit „staatsverstärkter Kriminalität“ (Die straf-juristische Privilegierung staatsverstärkter Kriminalität. Vittorio Klostermann, Frankfurt 1996) beschäftigt, untersucht als nicht sensationelles, aber vielsagendes Beispiel eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der Angehörige des DDR-Stasi-Ministeriums freisprach, die auf Anweisung Geld aus Postsendungen gestohlen hatten. Diese organisierte Form der Unterschlagung war nach BGH-Auffassung „nicht tatbestandsmäßig“. Naucke zeigt auf, daß hier „andere Grundsätze als rechtsstaatliche“ zur Beurteilung herangezogen worden seien.
Von „staats-“ oder „machtverstärkter“ Kriminalität spricht der emeritierte Frankfurter Strafrechtslehrer, um hervorzuheben, daß es sich prinzipiell nicht um Kriminälität des Staates handelt, sondern daß die staatlichen Institutionen zu Werkzeugen in der Hand von Verbrechern geworden sind. Das Dilemma der Justiz besteht darin, daß die staatsverstärkten Verbrechen häufig mit den Mitteln des „Rechts“ begangen werden. Und daß sie, jedenfalls solange sie verübt werden, unter dem mächtigen Schutzdach eines Staats stehen.
… “Princeps legibus solutus“, der Fürst steht über den Gesetzen, entlarvt. Diese Formel wird, jedenfalls in der westlichen Welt, wenn sie so nackt und bloß dasteht, von niemandem mehr anerkannt. Und doch wenden sie die Gerichte an.
Naucke ist nicht der erste und einzige, dem aufgefallen ist, daß die deutsche Justiz bei der sogenannten strafrechtlichen Aufarbeitung der in der DDR mit staatlichen, nicht zuletzt justizförmigen Mitteln begangenen Verbrechen auf sehr ähnliche, teils auch gleiche argumentative Muster zurückgreift wie vor Jahrzehnten, als es um die NS-Verbrechen ging.
…Nicht von ungefähr beschwor Carl Schmitt, der den Führer als Rechtsquelle erst richtig erfunden hat, nach dem Kriege die Unverletzlichkeit des Rückwirkungsverbots. Es ist nun einmal das wirkungsvollste justizielle Mittel, um entmachtete Staatskriminelle vor Strafe zu schützen.
Naucke will darauf hinaus, daß eine solche Anwendung des Rückwirkungsverbots eben nicht rechtsstaatlich sei. Denn der Zweck des erwähnten Grundsatzes (keine Strafe ohne Gesetz), der als erster Paragraph im Strafgesetzbuch auftaucht, darüber hinaus aber auch Verfassungsrang genießt, besteht darin, Staatswillkür zu verhindern, und nicht etwa umgekehrt, sie straffrei zu stellen. …