…Tobias Singelnstein, Professor für Strafrecht an der Freien Universität Berlin, hat ausgerechnet, dass etwa 95 Prozent der eingeleiteten Strafverfahren gegen Polizisten wegen Körperverletzung im Amt von der zuständigen Staatsanwaltschaft eingestellt werden – ein Wert, der »erheblich über dem Durchschnitt« der Körperverletzungsverfahren liegt. In Hamburg kam es 2007 bei 366 tatverdächtigen Polizisten in keinem einzigen Fall zu einer Anklage. Im Jahr 2005 waren es bei 459 Tatverdächtigen vier Anklagen und 2003 bei 491 Tatverdächtigen immerhin sieben.
In Berlin wurde im Jahre 2008 gegen 636 Beamte wegen Körperverletzungsvorwürfen ermittelt. In 615 Fällen stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Sechs Beschuldigte wurden freigesprochen, keiner wurde verurteilt. Im Jahr zuvor war ein Beamter schuldig gesprochen worden.
Die Strafverfolger rechtfertigen solch magere Zahlen mit dem Argument, dass erwischte Tatverdächtige oft Falschbeschuldigungen gegen Polizeibeamte erheben. Und tatsächlich gehört es zum Standardrepertoire gefasster oder überführter Personen, Misshandlungen durch Polizisten zu behaupten. Unter den Anzeigeerstattern sind zahlreiche Schwindler, die sich durch die eigene Opferrolle Vorteile vor Gericht ausrechnen. Andererseits lügt nicht jeder, der einen Beamten beschuldigt.
Häufig können polizeiliche Gewalttäter wegen ihrer Uniform vom Bürger nicht einmal zweifelsfrei identifiziert werden, und wenn doch, steht Aussage gegen Aussage. In der Regel hat der verdächtige Beamte auch noch eine Reihe von Kollegen, die ihn entlasten und sein Fehlverhalten decken. »Dass sich Polizisten finden, die gegen ihre eigenen Kollegen aussagen, kommt so gut wie nie vor«, schreibt Singelnstein in einem Aufsatz. Es werde eine »Mauer des Schweigens« errichtet, bestehend aus falscher Kameraderie, innerpolizeilichem Druck und der Angst, als Mitwisser selbst wegen unterlassener Hilfeleistung ins Visier der Strafverfolgung zu geraten.
Der misshandelte Bürger steht mit seiner Anzeige also allein und muss auch noch Gegenanzeigen wegen angeblichen Widerstands gegen die Staatsgewalt oder falscher Verdächtigung fürchten. Denn die Täter unter den Beamten erstatten ebenfalls sofort Anzeige, um sich zum Opfer zu machen. Die wenigen Fälle von Polizeigewalt, die schließlich doch zum Gericht durchdringen, enden fast immer mit Freispruch. »Die Strafjustiz hat zu oft Verständnis für den angeklagten Beamten«, sagt Singelnstein. Man arbeitet im Alltag zusammen und kann sich gut in die vom beschuldigten Polizisten behauptete Lage hineinversetzen. Ein Gericht überlegt sich deshalb zweimal, einen Polizeibeamten zu verurteilen und damit das Ansehen der ganzen Behörde zu beschädigen. …
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Die Polizisten schlagen zu – und vernichten später Beweise
Am 15. November 2010 wurde im bayerischen Pfaffenhofen die unbescholtene Familie Eder von einem zehnköpfigen Einsatzteam der Polizeiinspektion Rosenheim krankenhausreif geprügelt, nachdem sie mit Beamten nicht wunschgemäß kooperiert hatte. Den 65-jährigen Josef Eder, selbst Polizist im Ruhestand, malträtierten die Beamten in seinem eigenen Haus derart, dass er zeitweise das Bewusstsein verlor. Ärzte des Klinikums Rosenheim diagnostizierten später ein Bauchtrauma, Prellungen an Stirn und Wange, Bewegungseinschränkung des Halses, Verletzungen an Ellenbogen und Handgelenken. Der Patient »weint viel und leidet sehr«, heißt es im Arztbericht, »er hyperventiliert«. Das Krankenblatt dokumentiert Schwindel, starkes Kopfweh und Schmerzen in der Nierengegend aufgrund zahlreicher Tritte und Schläge. Eine ganze Woche muss Eder das Klinikbett hüten. Seiner Frau und der 36-jährigen Tochter ergeht es nicht besser. Auch sie müssen wegen Bauchtraumata, starker Schädel- und Rippenprellungen für eine Woche ins Krankenhaus. Das vierte Opfer, Eders Schwiegersohn, der seiner Frau zu Hilfe eilte, ist übersät von Verletzungen und Hämatomen. Im Attest steht: »Es dominiert der psychische Ausnahmezustand.«…
…Auf den Anwaltskosten bleiben die vier Angeklagten jetzt allerdings sitzen. »Da arbeitet man ein Leben lang«, sagt die Mutter Eder, eine ehemalige Telekom-Angestellte, »und dann braucht man ein Vermögen, um sich gegen die Polizei zu wehren.«
Die Frau hat immer noch mit den Folgen des Polizeieinsatzes zu kämpfen. Die dabei entstandenen Hand- und Fußgelenksverletzungen sind nicht richtig verheilt. Auch sieht sie seither auf einem Auge fast nichts mehr. Ihr Mann, der dem Rechtsstaat früher als Polizeibeamter gedient hat, sagt heute: »Der Staat stellt sich als Festung gegen seine Bürger.«
Eders Stimme zittert noch immer vor Fassungslosigkeit, wenn er von der »organisierten Staatskriminalität in Rosenheim« spricht, die brave Bürger misshandelt und dann vor Gericht zerrt, wo ihnen nicht Recht, sondern weiteres Unrecht geschieht.
Wie oft seine Beamten ungerechtfertigt oder mit unangemessener Härte gegen Menschen vorgehen, ermittelt der Staat nicht, weshalb das Ausmaß der Polizeigewalt in Deutschland unbekannt ist. Lediglich das Land Baden-Württemberg hat kürzlich angekündigt, die Zahl aller Straf- und Disziplinarverfahren gegen Polizisten erfassen zu wollen. Amnesty International konstatierte im Juli 2010, Polizeigewalt sei hierzulande zwar nicht systematisch, es gebe jedoch zahlreiche Einzelfälle. Polizeiinternen Befragungen aus den Jahren 1998 und 2001 zufolge waren 25 Prozent der Beamten der Meinung, hin und wieder sei es durchaus akzeptabel, mehr Gewalt anzuwenden als erlaubt. Und sechs von zehn Polizisten gaben an, auch gravierender Gewaltmissbrauch von Kollegen werde nicht immer berichtet oder angezeigt.