Ein Alptraum: Unschuldig im Gefängnis zu sitzen. Gerade letzte Woche ist für ihn ein solcher Alptraum zu Ende gegangen, für Harry Wörz. Zwölf Jahre hatte der Verdacht auf ihm gelastet, seine damalige Frau beinahe erdrosselt zu haben.
Jetzt der Freispruch. Doch ist Wörz der bedauerliche Einzelfall, die Ausnahme von der Regel? Karin de Miguel und Valentin Thurn sind bei ihren Recherchen auf den Fall von Andreas Kühn gestoßen.
Bericht:
O-Ton, Andreas Kühn:
»Wenn Sie unschuldig in Haft sind, dann ist das wie wenn Sie auf dem Friedhof lebendig begraben werden. Und dann klopfen Sie immer an, wenn jemand vorbeikommt und sagen: Ich bin aber gar nicht tot, ich leb’ doch noch.«
So fühlt sich Adreas Kühn seit neun Jahren. Seitdem sitzt er in der JVA Heimsheim. Er soll in Stuttgart vier Banken überfallen und rund 50.000 D-Mark erbeutet haben. Über ein Jahr lang hatte die Polizei erfolglos nach dem Bankräuber gesucht. Als sie auf Kühn stoßen, sind die Beamten froh, endlich einen Verdächtigen zu haben.
O-Ton, Andreas Kühn:
»Das ist ein ganz dummer Zufall gewesen. Ich habe den Vorstand der Bank als Fahrer gefahren. Und hab mich ungefähr eine Stunde vor der Bank aufgehalten, und das kam den Leuten verdächtig vor. Dann ist die Polizei alarmiert worden und hat einfach mal auf Verdacht mich festgenommen.«
Die Polizei durchsucht seine Wohnung und findet Verdächtiges. Der zuständige Staatsanwalt erinnert sich:
O-Ton, Matthias Inselsberger, Oberstaatsanwalt:
»Also man hatte keine Beweismittel, sondern zu diesen Punkten musste man mit Indizien arbeiten. Ein Indiz beispielsweise diese Vielzahl von Zeitungsausschnitten, die er zu einem dieser Banküberfälle gesammelt hat. Oder beispielsweise diese Kalendereinträge, ein großes Ü, wo er selber in der Hauptverhandlung eingeräumt hat, dass dieses Ü Überfall bedeutet.«
Andreas Kühn arbeitet damals als Bodyguard, wie hier für Stuttgarts ehemaligen Oberbürgermeister Manfred Rommel. Aus diesem Grund habe er sich für die Banküberfälle interessiert, erklärt er, doch keiner glaubt ihm.
Er wird einem Haftrichter vorgeführt. Als der Richter erklärt, er müsse mit 10 Jahren Gefängnis rechnen, brennen bei Andreas Kühn die Sicherungen durch.
O-Ton, Andreas Kühn:
»Der auslösende Moment war eigentlich schon die Aussage, dass ich mit zehn, elf Jahren zu rechnen habe. Und ich überhaupt nicht wusste wofür.«
Für den Gerichtspsychologen steht fest: Der Angriff auf den Richter war eine Kurzschlusshandlung.
O-Ton, Peter Winckler, Gerichtsgutachter:
»Angenommen, er war unschuldig, dann war es eine Affekt-Tat. Dann war er in einem Zustand, indem er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte.«
Obwohl er immer wieder seine Unschuld beteuert und die Beweislage dünn ist, wird Andreas Kühn zu 13 Jahren Haft verurteilt, davon mehr als die Hälfte für den Angriff auf den Haftrichter.
Eines der Hauptindizien ist das Foto einer Überwachungskamera: Die erste Bank hatte der Täter mit einer Maske überfallen, die die Ohren frei lässt. Das Gericht bittet einen pensionierten Kriminalpolizisten, das Foto mit dem Beschuldigten zu vergleichen. Ergebnis: Er kann es gewesen sein.
Seither versucht Andreas Kühn seine Unschuld zu beweisen. Sein ehemaliger Chef Rainer Glöckle ist der Einzige, der zu ihm hält und ihn seit Jahren unterstützt.
Er beauftragte auch Prof. Friedrich Rösing, einen der bekanntesten Spezialisten für Identifikations-Gutachten. Er soll nochmals die Fotos der Überwachungskamera mit Bildern von Andreas Kühn vergleichen.
O-Ton, Prof. Friedrich Wilhelm Rösing, Anthropologe, Universität Ulm:
Mit diesem neuen Gutachten beantragt Andreas Kühn die Wiederaufnahme seines Verfahrens. Doch trotz der klaren Aussage des Experten lehnt das Gericht den Antrag in erster Instanz ab.
So ergeht es vielen Verurteilten, nur wenige bekommen die Chance einer erneuten Verhandlung. Der Kriminologe Holm Putzke beschäftigt sich seit Jahren mit diesem Thema.
O-Ton, Holm Putzke, Kriminologe, Universität Bochum:
»Dass es so selten erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren gibt, das hat mehrere Gründe. Ein Grund ist, dass die Justiz kein Interesse daran hat, erfolgreiche Wiederaufnahmeverfahren durchzuführen. Weil es ja irgendwie an der Unfehlbarkeit der Justiz kratzt. Und der zweite Grund ist, dass es in der Politik auch keine Lobby gibt, für Unschuldige, die im Gefängnis sitzen. Man geht einfach davon aus, das mögen zwar ein paar sein, aber es sind so wenige, dass sich der Einsatz für diesen Personenkreis einfach nicht lohnt.«
Wie viele Menschen unschuldig im Knast sitzen, ist nicht bekannt. Experten rechnen jedoch mit mehreren Tausend. Und wer, wie Andreas Kühn, seine Schuld nicht eingesteht, wird oft besonders hart bestraft.
O-Ton, Andreas Kühn:
»Ich habe halt gleich am Anfang meiner Haft mich mit dem Fall beschäftigt und hab signalisiert, ich bin unschuldig, ich möchte eine Wiederaufnahme des Verfahrens bekommen und da war ich sofort ein rotes Tuch für die sämtlichen Bediensteten und galt als Querulant.«
Als Tatleugner muss er seine Strafe bis zum Ende absitzen. Eine frühzeitige Entlassung wegen guter Führung findet in solchen Fällen so gut wie nie statt. Außerdem bekommt Andreas Kühn keinerlei Hafterleichterungen. Er durfte nicht einmal seine todkranke Mutter besuchen.
O-Ton, Andreas Kühn:
»Das war für mich eine Katastrophe. Das ist es auch bis heute. Und ich konnte bis heute nicht richtig Abschied nehmen, weil ich nur zur Beerdigung raus durfte in Hand- und Fußfesseln.«
Kühn kämpft weiter. Am 23. Juli dann die überraschende Wende: Das Oberlandesgericht Stuttgart urteilt: Das Verfahren gegen Andreas Kühn wird wieder aufgenommen. Hoffnung auf Freiheit, nach neun Jahren Haft.