Strafjustiz : Die eingebildete Tat, zeit-online, 19.11.2015
Es gab keine Tat, das war das Problem.
Laura ist sechs, ihr Cousin Noah acht Jahre alt, als dessen Mutter die beiden mit heruntergelassenen Hosen im Kinderzimmer erwischt. Noahs Mutter hätte die Kleinen in den Arm nehmen können, mit ihnen reden, zur Not auch schimpfen können. Sie aber tat etwas Verhängnisvolles. Sie erzählte es ihrem Schwager, Lauras Vater. Das sei eine ganz ernste Sache, befand der. Solche Doktorspiele kämen nicht von ungefähr. Da müsse was dahinterstecken. Schnell war er sich sicher: Sein Bruder, Noahs Vater, musste Laura sexuell missbraucht haben.
Herr Weber trank ja schließlich. Er betrieb einen Kiosk, in dem er sein bester Kunde war. Wenn er abends nach Hause kam, schrie er seine Frau und die beiden Söhne zusammen. Deswegen hatte seine Frau ihn verlassen und war mit den Kindern zur Familie ihres Schwagers gezogen. Herr Weber, der Tyrann: Da war der Weg zum Missbrauchstäter ja nicht mehr weit.
Vier Abende lang befragten die Erwachsenen ihre Kinder und protokollierten die Gespräche. Sie suggerierten Laura, was diese in ihren Augen erlebt haben musste. Lauras Aussagen änderten sich jeden Tag. Eigentlich mochte sie ihren Onkel, doch am Ende war auch sie davon überzeugt, er habe ihr was angetan. Herr Weber, der stets seine Unschuld beteuerte, wurde von einem deutschen Landgericht zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Ohne dass jemals ein Sachverständiger die Glaubhaftigkeit der Aussage des Mädchens überprüft hatte.
Als der Bundesgerichtshof in der Revision das Fehlen einer solchen Begutachtung anmahnte und den Fall an eine andere Kammer zurückverwies, wurde der Psychologe Max Steller damit beauftragt. “Als ich die Protokolle las, konnte ich kaum fassen, dass sie beim ersten Urteil kaum eine Rolle gespielt hatten. Das las sich stellenweise wie aus dem Lehrbuch über suggestive Prozesse bei Kindern”, schreibt er in seinem kürzlich erschienenen Buch Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann. Kinder, das ist kein Geheimnis, sind sehr suggestibel, und Steller konnte nachweisen, dass Laura die ganze Geschichte nur eingeflüstert worden war. Herr Weber kam frei.
…In der Realität aber, das ist Stellers Befund, ist dieser Moment bisweilen trügerisch. Weil der als Täter Auserkorene gar kein Täter ist, sondern unschuldig von einem Apparat geschluckt wird, der ihn nicht selten erst Jahre später als gebrochenen Menschen wieder ausspuckt. “Die deutsche Justiz ruiniert häufig Leben”, sagt Steller. Er muss es wissen, er hat es selbst mit angesehen.
Max Steller, 71, emeritierter Professor für forensische Psychologie der Berliner Charité, sitzt in einem Restaurant gegenüber vom Kaufhaus des Westens und erzählt von den mehr als vier Jahrzehnten, in denen es ihm in deutschen Gerichtssälen immer wieder gelang, Justizskandale zu verhindern. Als Glaubhaftigkeitsgutachter hat er Lügner entlarvt und Scheinerinnerungen als solche erkannt, hat Männer wie Herrn Weber, die längst als Monster abgestempelt waren, rehabilitiert.
Doch Stellers Buch ist keine Heldensaga in eigener Sache, sondern eine Anklage. Gegen ein reformunwilliges Justizsystem, das aus Fehlern nicht lernt und sich selbst genug ist – und damit immer wieder Irrtümer produziert. Gegen Staatsanwälte, die lieber gesellschaftlichen Trends das Wort reden, als sich wissenschaftliche Hilfe zur Überprüfung von Vorwürfen einzuholen. Gegen ideologisch besessene Psychologen-Kollegen, die in ihrem Aufdeckungseifer jede Sorgfalt fahren lassen.
…Denn die Geschichten, die er aus der Wirklichkeit der deutschen Strafgerichte erzählt, sind so unfassbar, dass sie in jedem Roman völlig überzogen wirken würden. Zum Beispiel jene aus Worms.
Max Steller schüttelt den Kopf, als könne er noch immer nicht fassen, was er vor rund 20 Jahren vor dem Landgericht Mainz erlebt hat. Dort fanden zwischen November 1994 und Juni 1997 die drei sogenannten Wormser Prozesse statt, in denen 25 Männer und Frauen aus Worms des massenhaften sexuellen Missbrauchs von Kindern angeklagt waren. Eltern, Onkel, Tanten, Großmütter.
…”Es gab Aussagen von 16 Kindern, eine schrecklicher als die andere”, sagt Steller. Demnach habe es in Worms einen Porno-Ring gegeben, die Kinder seien hin und her gereicht worden. Sadistische Sexualhandlungen, Gruppentaten mit Videoaufnahmen: Die Medien spielten verrückt. Dabei war schon die Anklage grotesk: Einige Kinder waren zu den angeblichen Tatzeiten nicht einmal geboren, andere Übergriffe sollten stattgefunden haben, als die Beschuldigten längst in Untersuchungshaft saßen. Die federführende Staatsanwältin stützte ihre Anklage auf die Kinderaussagen, die im Zuge der Ermittlungen von drei Psychologen als glaubwürdig eingestuft worden waren. Steller nennt deren Gutachten in seinem Buch “Schlechtachten”, weil in keinem berücksichtigt wurde, wie die Aussagen der Kinder zustande gekommen waren: “Nach Prüfung der Akten und den Befragungen der Kinder in der Hauptverhandlung war bald klar, dass alle Kinder zwar Opfer waren, aber nicht von sexuellem Missbrauch, sondern Opfer von sogenannten Kinderschützern und ihrer suggestiven Aufdeckungsarbeit.”
…Warum die Aussagepsychologie bis heute kein Lehrfach in der juristischen Ausbildung ist, ist für Steller ein Rätsel. Das ist in etwa so, als würde ein Automechaniker nicht lernen, wie man den Fehlerspeicher ausliest. “Viele Richter glauben noch heute, dass es um die Glaubwürdigkeit von Personen geht. Entscheidend ist aber die Glaubhaftigkeit der Aussage.” Was Steller bis heute erschreckt, ist die mangelnde Lernfähigkeit der Justiz. Fälle wie der in Worms sorgten immer nur für kurze Zeit für ein Umdenken. Danach kehre das System zu tradierten Verhaltensweisen zurück, als wäre nichts gewesen.
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