Vienenburger saß eineinhalb Jahre unschuldig im Gefängnis, Braunschweiger Zeitung, von Carla Juhre
48-Jähriger hatte zuvor sexuelle Misshandlung gestanden – Landgericht Göttingen rollte Verfahren neu auf
GÖTTINGEN. 18 Monate saß ein Mann aus Vienenburg im Gefängnis – erst in Braunschweig, dann in Göttingen. Gestern sprach ihn das Göttinger Landgericht frei.
2007 hatte ihn das Landgericht Braunschweig verurteilt. Er soll den Sohn eines Bekannten misshandelt haben. Das Urteil lautete: Fünfeinhalb Jahre Haft wegen schweren sexuellen Missbrauchs.
Das Opfer war ein zweijähriger Junge, der am ganzen Körper Verletzungen aufwies. Am Tag, an dem die Mutter die blauen Flecken entdeckte, war ihr Sohn für kurze Zeit bei dem 48-Jährigen gewesen – deshalb fiel der Verdacht auf ihn.
Die Polizei vernahm ihn, und der Vienenburger gestand die Tat nach einer Weile, widerrief jedoch kurz danach. Dennoch verurteilte ihn das Landgericht Braunschweig, vor allem aufgrund des Geständnisses.
Der Verurteilte kam in Untersuchungshaft. Das Urteil war nie rechtskräftig geworden: Der Mann hatte Revision eingelegt. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung nach Göttingen. Das Gericht sprach den Vienenburger vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs frei. Die Richter folgten dem Antrag der Verteidigung, und auch die Staatsanwaltschaft hatte Freispruch gefordert.
Die Göttinger Richter konnten nicht restlos aufklären, warum der 48-Jährige zunächst gestanden hatte. Sie kamen allerdings durch die Befragung weiterer Zeugen und Sachverständigen zu dem Schluss, dass das Geständnis nicht plausibel sei.
Spuren und das Gutachten eines Sachverständigen, wonach ein solches Vorgehen zu dem Vienenburger nicht passe, sprächen gegen die Täterschaft, sagte der Vorsitzende Richter.
Der neue Prozess brachte zudem hervor, dass der Stiefvater des Kindes als Täter in Frage komme, dieser habe das Kind schon vorher geschlagen. Außerdem fand sich dessen DNA in der Windel des Kindes.
Der damals 25-jährige Stiefvater hatte den Jungen im April 2007 bei dem befreundeten Vienenburger für einige Minuten zurückgelassen. Die Staatsanwaltschaft muss jetzt prüfen, ob gegen den Stiefvater ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird.
Laut Petra Yildiz, Sprecherin des Göttinger Landgerichts, kam der Vienenburger noch gestern frei. Eine Entschädigung bekomme er nur für einen der vielen Tage im Gefängnis: “Für den Tag in Polizeigewahrsam, als er das Geständnis ablegte.”
Der Vorsitzende Richter erklärte, der Vienenburger habe sich durch sein Geständnis selbst belastet und somit die erlittene Haft zu verantworten. Deswegen stehe ihm keine Entschädigung zu.
18 Monate eingesperrt – doch weil er sich selbst belastet hat, erhält der Freigesprochene kein Geld, keine Entschuldigung. Maike Block-Cavallaro, Sprecherin vom Braunschweiger Landgericht, sagt. “Ansonsten sieht das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen eine Entschädigung von 11 Euro pro Tag vor.”