Der Staat dankt ab, Die Welt, 13.11.2014
Mehr Einbrüche, mehr Überfälle – aber Polizei und Justiz schauen meist nur zu. Wenn sich der Bürger nicht mehr sicher fühlt, entsteht ein explosives politisches Gemisch, das der Politik um die Ohren fliegen wird
Auch wer sich als Liberaler einen schlanken Staat wünscht, will, dass er funktioniert. Eine der zentralen Aufgaben des Staates ist es, die Rechtsstaatlichkeit zu garantieren, die körperliche Unversehrtheit des Einzelnen oder auch das Eigentumsrecht zu schützen. Davon kann in Deutschland nicht mehr die Rede sein. Wem dieser Tage, etwa in Berlin, der Familienkombi vor der Haustür weggeklaut wird, der erlebt eine freundliche Polizei, die bei der Diebstahlmeldung nicht mehr nach dem Nummernschild fragt. Ein paar Tage später landet ein ausführlicher Fragebogen in der Post.
Wenn in der Straße eines eher bürgerlichen Viertels jeder zweiten Familie entweder das Auto geklaut, rituell Navigationssysteme und Lenkräder entwendet, oder in Häuser und Wohnungen eingebrochen wird, stellt das die Frage nach der Rechtsstaatlichkeit neu. Verängstigten Bürgern, die tendenziell seit Jahren Spitzensteuersatz zahlen, ruft der Berliner Polizeichef Erheiterndes zu, wie “Die Polizei ist nicht ihr Wachschutz”. Oder: “Vor jedes Haus können wir keinen Beamten stellen.” Einer ähnlichen Logik folgt der verlorene Kampf um Parks, in denen nicht Polizisten Drogendealer jagen, sondern Dealer das Geschäft störende Zivilfahnder. In solchen Momenten wird der Rechtsstaat vorgeführt, doch die Empörung hält sich in Grenzen. Gerade jene Milieus, die den Neoliberalismus für seine Staatskritik verachten, kommentieren das Scheitern des Staates bei seinen ersten Aufgaben entweder schulterzuckend oder höhnisch. In Großstädten gibt es rechtsfreie Räume, wo muslimische Friedensrichter Verkehrsunfälle klären sollen, und Viertel, in denen ein amerikanischer Turnschuhhersteller seinen farbigen Angestellten Taxis spendiert, weil rassistisch motivierte Körperverletzung eine Art schaurige Regel geworden ist. …
Der Staat erlaubt sich unendlich viel unnötigen Luxus. Die Verfolgung von Steuerstraftätern bekommt symbolisch höchste Weihen, während sich Diebesbanden aus Osteuropa mehr oder minder ungestört an Autos und Schmuck rechtschaffener Bürger bedienen können. Der Fahndungsdruck ist nicht vorhanden, die Zusammenarbeit der Polizei über das Bundesland hinaus läuft schleppend, und kaum einer mag sich Erfolgsgeschichten wie die der “Zero Tolerance”-Politik in New York unter dem pragmatisch liberalen Bürgermeister Rudy Giuliani ansehen.
Null Toleranz gibt es für Baustellen, die seltene Echsenpaare vertreiben oder Stellenausschreibungen, in denen Gender-Codes allzu binär ausformuliert werden, nicht aber für die Verfolgung von mitunter schwersten Gewalttaten. Hinzu kommt oft genug eine lasche Justiz, die mit lächerlichen Strafen geradezu den Hohn angehender Gangsterkarrieristen herausfordert. Durch dieses Verfallssyndrom wird ein wertvoller Gesellschaftsvertrag aufgekündigt. Freiheit beginnt mit Sicherheit, und wenn der Bürger das Gefühl hat, sie in die eigenen Hände nehmen zu müssen, steht dem Gelingen unseres Zusammenlebens eine düstere Zukunft bevor. Mehr Delikte, noch weniger Aufklärung schaffen ein Pulverfass, das der Politik um die Ohren fliegen wird. Muss es erst so weit kommen? …