“Die Spiegel Affäre”, ARD, Mi, 7.5., 20:15 Uhr
Die Spiegelaffäre 1962 – ein Versagen der Justiz?, 17.10.2012
Vor 50 Jahren, am 26.10.1962, begann die sogenannte Spiegelaffäre. Sie bewirkte eine
ungeheure Mobilisierung der Öffentlichkeit und führte zu dem berühmten Spiegel-Urteil des BverfG. Die Justiz war Akteur und Objekt massiver Kritik. Wie berechtigt war der Vorwurf des Justizversagens?
…Der liberale Strafrechtler Ulrich Klug hat zum Spiegel-Verfahren ausgeführt, es habe
Rechtsfragen aufgeworfen, „die in mancherlei Hinsicht völlig neu sind“. Ein besonders
wichtiger Teil der aktuell gewordenen Rechtsprobleme betreffe „die bei dieser Gelegenheit
mit Schärfe hervorgetretenen Konflikte zwischen Strafprozessrechtsbestimmungen und
Normen des Verfassungsrechts“.
So war es. Die damals agierenden Juristen haben die Notwendigkeit zum Neudenkens allerdings nicht erkannt, sondern stattdessen – wie Juristen es häufig, auch aktuell weiter, tun – alte Schubladen mit alten Argumentationsfiguren und Verdachtskonstruktionen geöffnet. So gab es zwar schon damals Stimmen in der Literatur, die die große Bedeutung der Pressefreiheit für die Auslegung von Strafrecht und Strafprozessrecht sahen19. Sie forderten, den publizistischen Landesverrat anders zu bewerten als den „gemeinen“, etwa den durch die im Geheimen handelnden Agenten. Sie lehnten es ab, Durchsuchungen bei Presseangehörigen mit dem Ziel durchzuführen, Informanten zu finden.
Sie stellten besondere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Durchsuchungen in
Redaktionsräumen, an Beschlagnahmen von Redaktionsmaterial oder an Festnahmen.
Das aber war nicht Mainstream. Als Versagen der Justiz kann man ihr ankreiden, dass ihre Vertreter bei Beginn und bei der Durchführung der Aktion noch nicht zu neuem Denken aufgebrochen waren. Ein solcher Aufbruch aber ist für die meisten Juristen heute ebenso wie in der Vergangenheit ein unbehagliches Abenteuer. Typisch sind in der Mehrheit fast immer beharrende Kräfte.
Niemand darf sich wundern, dass die Beamten und Richter im Oktober 1962 an traditionellen Denk- und Vorgehensweisen festhielten, als sie mit dem Vorwurf des
Landesverrats durch eine inhaltlich ihre eigene Sachkompetenz überschreitende
Veröffentlichung zu extrem wichtigen militärtechnischen und -strategischen Fragen
konfrontiert waren. Die nähere Klärung, ob es sich um Landesverrat handelte, musste zudem in der Zeit des Höhepunkts der Kuba-Krise durchgeführt werden.
Akt war die Sorge, der kalte Krieg, der schon durch den Mauerbau 1961 weiter zementiert worden war, könne umgehend zum heißen werden. Der Bundeskanzler bezeichnete den von ihm wenig später schon als feststehend bezeichneten Landesverrat als „Verbrechen von besonderer Abscheulichkeit“.
…Dass die von ihnen durchgeführten Maßnahmen in vielen Einzelheiten unverhältnismäßig waren – ich habe keinen Zweifel daran -, war vermutlich ebenfalls dem Sog der Situation geschuldet, einem Sog, den die politische Elite der Bundesrepublik kräftig verstärkte.
…Eine juristische Bewertung aber folgt und sie hat viele überrascht: Eine Anklage wegen
Amtsanmaßung oder Freiheitsberaubung unterbleibt, auch bei Strauß. Die strafrechtlichen Tatbestände werden für Strauß bejaht und seine Übergriffe als unbefugt gewertet. Zur Anklage kommt es aber nicht, weil Strauß – in juristischer Terminologie – zum Teil ein Tatbestandsirrtum zugute gehalten wird; vor allem aber wird ausgeführt, dass wichtige Elemente nicht mehr feststellbar seien, die zur Widerlegung der Einlassung von Strauß erforderlich wären. Die akribische Aufklärung des Sachverhalts hat eben doch auch einzelne Lücken offenbart und durch diese entschlüpft der Beschuldigte Strauß. Ob einem weniger prominenten Beschuldigten dies in vergleichbarer Lage auch gelungen wäre, wissen wir nicht.
…Nun aber zu den zwei im Gericht vertretenen Positionen. Vier Richter, deren Auffassung die Entscheidung im Ergebnis trägt, hielten die Anordnung der Durchsuchungen und
Beschlagnahmen für verfassungsmäßig, rehabilitierten also die Beamten und Richter, die die Durchsuchungen und Beschlagnahmen 1962 beantragt bzw. verfügt hatten.