Wer tötete Johanna Schenuit? Unschuldigen fehlt die Einsicht in seine Tat, 19.06.2000

Verbrechen, Wer tötete Johanna Schenuit?, Der Spiegel 25/2000, 19.06.2000

Seit 17 Jahren büßt ein Mann für einen Mord, den er vermutlich nicht begangen hat. Doch die Gerichte verweigern die Wiederaufnahme des Verfahrens. Ein neues Gutachten könnte dem heute 42-Jährigen die Freiheit bringen.

Zelle 126 in der Strafvollzugsanstalt Geldern an der deutsch-niederländischen Grenze fällt durch Kargheit auf. Nur zwei Fotos schmücken den schmalen Haftraum – Bilder von Mitarbeitern des Gefängnislazaretts in Werl. Dort putzte Häftling Franz-Josef Sträter, 42, zwölf Jahre lang die Instrumente.

Das Ambiente wirkt, als sei Sträter neu hier oder würde nicht lange bleiben. Doch der Mann sitzt seit 17 Jahren ein. 1983 verurteilte das Landgericht Arnsberg den damals 25-jährigen Posthauptschaffner aus dem sauerländischen Dorf Oberhenneborn wegen Mordes an der ein Jahr jüngeren Johanna Schenuit zu einer lebenslangen Haftstrafe. Sträter hat, nachdem er zunächst gestanden hatte, stets seine Unschuld beteuert – bislang vergeblich.

Die Wende in dem Fall könnte der Wiener Kriminalwissenschaftler Thomas Müller bringen. Der bei der amerikanischen Bundespolizei FBI ausgebildete Spezialist für Sexualmorde ist von Sträters Unschuld überzeugt. Zwei Jahre nach der Verhaftung des angeblichen Mörders wurde im Sauerland eine weitere Frau umgebracht. Die Tat weist exakt dieselben Merkmale auf wie das erste Verbrechen. In einem Gutachten kommt Müller zu dem Schluss, beide Morde müssten von ein und demselben Täter begangen worden sein.

Vergangenen Freitag traf die Expertise bei dem renommierten Dortmunder Strafverteidiger Ralf Neuhaus ein, der seit zehn Jahren die Wiederaufnahme des Verfahrens betreibt. “Im Fall Sträter”, sagt Neuhaus, “ist von Anfang an schlampig ermittelt worden.”

Oberhenneborn, Mai 1983. Der kleine, südlich von Meschede gelegene Ort feiert Schützenfest. Die Menschen in den umliegenden Dörfern kennen sich fast alle oder sind irgendwie miteinander verwandt. Die Region ist streng katholisch, über kleine Sünden spricht man nicht.

Das Schützenfest, jährlicher Höhepunkt des dörflichen Lebens, steigt in Oberhenneborn stets zu Pfingsten. Die Theologiestudentin Johanna Schenuit wird am Pfingstmontag von ihrem Vater gefunden: Sie liegt, grausam zugerichtet, in der Remise des elterlichen Hauses.

Das Dorf ist schockiert. “Bis dahin glaubten wir, bei uns sei die Welt noch in Ordnung”, erinnert sich Josef Dröge, heutiger Ehrenvorsitzender der Oberhenneborner Schützen. Ein schrecklicher Tag beginnt. Misstrauen legt sich über das Dorf. Wer ist der Mörder? Ist es etwa einer von uns?

Alle Männer, die abends in der Festhalle gefeiert haben, werden vernommen. Auch Franz-Josef Sträter, zwei Jahre zuvor Schützenkönig im Nachbarort Kirchrarbach. Sträter hat die Johanna in der Tatnacht ein Stück auf dem Heimweg begleitet. Sie habe ihn, sagt er, sogar darum gebeten, aus Angst vor einem hartnäckigen Verehrer aus dem Dorf. Man sei deshalb nicht die Hauptstraße gegangen, sondern einen kleinen Feldweg, und habe sich etwa 300 Meter vor dem Haus der jungen Frau getrennt.

Sträter ist, bestätigen Zeugen, kaum eine halbe Stunde weg gewesen. Er trinkt noch ein Bier auf dem Fest und übernachtet bei Bekannten. Sträter wirkt ganz ruhig, unauffällig wie immer. Als die Beamten der Mordkommission den Posthauptschaffner am Pfingstmontag aufsuchen, trägt er immer noch die helle Kleidung vom Vorabend. Kein Schmutz, kein Blut, kein Riss fällt den Ermittlern auf.

Vielleicht ist das der Grund, warum sie sich wie Anfänger aufführen. Die Beamten nehmen Sträter mit zum Tatort, wo er, bis auf die Leiche, alles sehen kann: die Schuhe der Toten, das Blut, die Nummerntäfelchen der Spurensicherung.

Die Lokalzeitung berichtet über den Mord in allen Einzelheiten, auch dass der Schädel des Opfers mit einer vier Kilogramm schweren Eisenstange, dem so genannten Oberlenker für den Traktor, zertrümmert wurde.

All das wird ihm später als Täterwissen zur Last gelegt.

Noch zwei Tage nach der Tat macht Sträter auf die Polizisten einen “unbefangenen und aufgeschlossenen” Eindruck. “Auf Grund der Gesamtumstände”, notieren sie, sei er “als Tatverdächtiger auszuschließen”.

Doch Sträter hat den Beamten zunächst verschwiegen, dass er Johanna auf dem Heimweg ein Stück begleitet hat. Das wird ihm zum Verhängnis. Er sei, sagt der Ermittlungsleiter Staatsanwalt Karl Kroll damals der Lokalpresse, “noch nie von einem Verdächtigen so sehr getäuscht” worden. Mit einem “Meisterstück an Verstellung” habe Sträter die gesamte Mordkommission genarrt.

Am 1. Juni muss Sträter die Polizisten zur Wache nach Fredeburg begleiten. Dort kommt es zu einem “informatorischen Gespräch”. Die Vernehmer weisen Sträter weder auf sein Schweigerecht hin noch darauf, dass ihm ein Verteidiger zusteht. Nach stundenlangem Verhör bricht Sträter zusammen und gibt alle Anschuldigungen zu. Neun Jahre später erklärt der Bundesgerichtshof, derartige Vernehmungen seien weder mit den Prinzipien des Rechtsstaates noch mit der Menschenwürde vereinbar.

Er sei “derartig auseinander genommen”, schreibt Sträter später in sein Tagebuch, “dass ich selbst nicht mehr wusste, was ich glauben sollte”. Er widerruft sein Geständnis, gesteht in der nächsten Vernehmung erneut – und widerruft abermals.

Niemandem fällt auf, dass beide Geständnisse einige Ungereimtheiten aufweisen. So will Sträter jede Menge Blut gesehen haben, obwohl es in der Remise stockdunkel war.

Dass ein Verdächtiger unter dem psychischen Druck des Verhörs ein falsches Geständnis ablegt, gehört zum Standardwissen jedes Kriminalisten. Die Staatsanwaltschaft ist deshalb gehalten, die Aussagen auf Glaubwürdigkeit zu überprüfen, auch entlastende Tatsachen zu berücksichtigen und Sachbeweise zu beschaffen. Das alles geschieht im Fall Sträter nicht.

Schlecht auch für ihn, dass sein Pflichtverteidiger schludert: Er stellt weder Beweisanträge, noch versucht er, das Geständnis zu widerlegen. Er rät seinem Mandanten lediglich, offensichtlich von dessen Schuld überzeugt, zum Schweigen. Nur so sei eine lebenslange Haftstrafe zu vermeiden. Das Gegenteil tritt ein.

Am 14. Dezember 1983, Sträters 26. Geburtstag, fällt das Urteil: lebenslang. “Wer einen Menschen so bestialisch umbringt”, ereifert sich Staatsanwalt Kroll während des Plädoyers, “hat sein eigenes Leben verwirkt.” Das Dorf Oberhenneborn kann wieder ruhig schlafen.

Alte Freunde, selbst die meisten Verwandten, wenden sich ab. Nur Sträters Schwestern Veronika, heute 49, Klärchen, 44, und Martha, 39, halten fest zu ihm. “Hast du was mit dem Mord zu tun?”, fragt ihn Veronika nach der Festnahme. Und Franz-Josef antwortet: “Um Gottes Willen, du kennst mich doch.” Seitdem kämpfen die drei unermüdlich, um seine Unschuld zu beweisen.

Sträters ehemalige Freundinnen beteuern übereinstimmend, er habe sie nie sexuell bedrängt und stets akzeptiert, wenn sie sich verweigert hätten. Selbst ein Psychologe und ein Psychiater, die Sträter in Untersuchungshaft begutachten, kommen zu dem Ergebnis, bei ihm sei weder eine

“gesteigerte Aggressivität” noch eine “Bevorzugung aggressiver Durchsetzungstechniken” zu erkennen. Doch diese Aussagen interessieren die Ermittler nicht. Sie haben sich auf Sträter als Täter festgelegt.

1985 erschüttert ein zweiter Mord die Region, wieder zur Zeit des Schützenfestes. Diesmal stirbt Maria Lehmann, 58, aus dem Nachbardorf Niederhenneborn. Sie wird tot in ihrem Auto gefunden. Sie sei erdrosselt und vergewaltigt worden, sagt die Polizei. Mehr nicht. Wieder leitet Staatsanwalt Kroll die Ermittlungen.

Rechtsanwalt Neuhaus stößt bei seinen Recherchen auf die grausigen Parallelen der beiden Morde: Beide Opfer waren so stark gewürgt worden, dass das Zungenbein brach. In beiden Fällen verbiss sich der Täter mit hoher Kraft in die Brustwarzen, versengte die Schamhaare, und in beiden Fällen manipulierte der Täter mit starker Gewalt im Vaginalbereich, im Falle Lehmann führte er sogar ein Plüschtier ein. Nur Sperma wurde nicht gefunden.

Nach Erkenntnissen des Düsseldorfer Kriminalisten Stephan Harbort, der die erste empirische Untersuchung über Serienmörder in Deutschland (SPIEGEL 40/1999) schrieb, lassen die Nähe der Tatorte und die spezifischen Verletzungen einen Täter als sehr wahrscheinlich erscheinen. Weitere Morde nach genau diesem Schema hat es in Deutschland laut Harbort noch nie gegeben, und auch dem Bundeskriminalamt ist nichts Vergleichbares bekannt.

Zu den im Fall Lehmann Verdächtigen zählt auch ein Kriegsinvalide. Als dessen Stieftochter von dem Mord hört, “da habe ich gleich gedacht: Er war es”. Sie sei von dem Mann seit ihrem elften Lebensjahr gequält und vergewaltigt worden. Die Details ihres Martyriums stimmen erschreckend mit den Merkmalen der Morde überein: Der Peiniger habe ihr Fische und Gemüse in die Vagina und sich selbst in den After eingeführt, um später Essen daraus zuzubereiten, er habe ihr die Schamhaare versengt und ihre Brustwarzen zerbissen, sagt die heute 38-Jährige.

Im Krieg habe ihr Stiefvater lautlos töten gelernt. Sein Griff mit dem Daumen über dem Kehlkopf erstickte jeden Laut, wenn er das Mädchen vergewaltigte. Um sich aufzugeilen, habe er seiner Stieftochter oft von seinem Sex mit Ziegen erzählt. “Es hat ihn stark erregt, wenn jemand Angst hatte. Dann hat sich sein Gesicht total verändert.”

Nach Aussage der Frau hat der Kriegsinvalide Maria Lehmann am Abend vor dem Mord mit ihr zusammen im Auto nach Hause gebracht. Nachdem die Polizei am Tatort Fasern eines blauen Arbeitsanzugs und Spuren von Aluminium gefunden habe, habe er seinen Blaumann weggeworfen.

Die Stieftochter erstattet Anzeige und macht ihre Aussage – bei Staatsanwalt Kroll. Doch der reagiert offenbar anders, als die Zeugin erwartet hat: Kroll habe gemeinsam mit dem Anwalt des Stiefvaters großen Druck auf sie ausgeübt, sagt sie. Weil der Beschuldigte ein koronares Herzleiden habe, so habe ihr der Staatsanwalt zu verstehen gegeben, seien mit Blick auf dessen Prozessunfähigkeit alle Ermittlungen sinnlos und würden eingestellt.

Für die Frau, die bis heute unter Angstzuständen leidet, bricht eine Welt zusammen. Kroll selbst kann sich zu den Anschuldigungen nicht mehr äußern – er starb 1992, kurz nach seiner Pensionierung.

Von alldem weiß Franz-Josef Sträter damals nichts. Erst sein hartnäckiger Anwalt stößt nach und nach auf “die Vielzahl von Ungereimtheiten” bei den Ermittlungen gegen ihn: Spuren, die von Sträter wegführten, wurden nicht verfolgt, nach entlastenden Tatsachen sei nicht einmal gesucht worden. Eine sexual-pathologische Untersuchung habe nicht stattgefunden.

Neuhaus ist entsetzt. Er beschafft sich die Akten, spricht mit Zeugen und Gutachtern. Beim Aktenstudium fällt ihm auf, dass es im Mordfall Schenuit auch andere Verdächtige gab, die aber nicht weiter behelligt wurden.

Das Misstrauen des Anwalts gegen die Arbeit der Ermittler wird bestätigt, als er in einem anderen Prozess zufällig auf den Kriminalhauptkommissar trifft, der Sträter vernommen hatte. Der Mann gibt vor Gericht Verblüffendes von sich: “Manchmal schreibe ich auch Kleinigkeiten anders ins Protokoll, um zu überprüfen, ob der Beschuldigte bei der Vernehmung aufmerksam war und das dann später beim Durchlesen korrigierte; zum Beispiel schreibe ich 20 Uhr, wenn der Beschuldigte 22 Uhr sagte. Kleiner Trick von mir.”

Wurde auch bei Sträters Geständnis so getrickst?

Zweimal beantragt Neuhaus die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Sträter, zuletzt 1995. Beide Anträge werden mit der Begründung abgelehnt, die neuen Tatsachen und Beweismittel seien nicht ausreichend.

“Faktisch”, so Neuhaus, “ist das Wiederaufnahmerecht in Deutschland tot.” Zwar habe der Gesetzgeber bereits 1974 eine umfassende Reform des Wiederaufnahmerechts für notwendig gehalten, doch bislang hat sich nichts getan. De facto stelle das geltende Wiederaufnahmerecht die Umkehr der Beweislast dar, denn der Antragsteller selbst müsse die Gründe und Belege für eine Neuauflage seines Prozesses beschaffen.

Das aber kann schon am Geld scheitern. Eine physikalische Untersuchungsreihe beispielsweise, die den Schlag mit dem Traktor-Oberlenker auf den Kopf des Opfers simuliert, ist für Sträters Schwestern unbezahlbar. Doch nur so ließe sich feststellen, ob der Mörder Blut an seiner Kleidung gehabt haben muss.

Neuhaus legt dennoch Beschwerde gegen die Ablehnung des Wiederaufnahmeantrags ein. Er wendet sich an den weltweit anerkannten Experten für Sexualmorde Thomas Müller in Wien. Müller lernte beim FBI das so genannte Profiling. Dabei wird anhand des Tatorts und des Zustands der Leiche die Persönlichkeit des Täters herausgearbeitet.

Der Österreicher, der unter anderem Spezialisten des Bundeskriminalamts ausbildete, kommt zu dem Ergebnis, dass “nach praktischen, kriminalpolizeilichen, geografischen, insbesondere jedoch aus kriminalwissenschaftlichen Aspekten ein Zusammenhang der beiden Tötungsdelikte als gegeben angenommen werden muss”. Der Mord an Lehmann sei die Perfektionierung der ersten Tat. Die Tatorte seien inszeniert und von außerordentlicher Symbolkraft, was gegen einen Affekttäter spreche.

Sträter sitzt, trotz bester Führung, weiter in Haft, bekommt keinen Ausgang, keine Lockerungen. Solange er leugne, heißt es, bestehe Wiederholungsgefahr. Ihm fehle die Einsicht in die Tat.

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