Dienststrafrecht, Entzündung im Zwischenhirn eines ehemaligen bayrischen Nazi-Richters, 06.01.1954

DIENSTSTRAFRECHT, Entzündung im Zwischenhirn, Der Spiegel 2/1954, 06.01.1954

Der Landespolizei-Oberinspektor König hatte zu Bieswang in der Nähe von Weißenburg (Bayern) eine peinliche Mission zu erfüllen. Er hatte am frühen Morgen nach dem Kirchweihfest einen Herrn aus einem Schweinestall befreien müssen, in den dieser Herr am Abend zuvor von jungen Bauernburschen eingesperrt worden war. Der Herr hatte sich den Burschen liebevoll zu nähern versucht und war daraufhin von ihnen in den ungemütlichen Verwahr gebracht worden.

Der Herr im Schweinestall war der Weißenburger Amtsgerichtsrat Dr. Erich Schmid-Lindner, 51 Jahre alt.

Schmid-Lindner hatte 1935 in Bayern das große juristische Staatsexamen bestanden. Als der Krieg zu Ende war, mußte er, wie viele seiner Kollegen, der Entnazifizierungsgesetze wegen aus dem Amt. Doch wenig später, 1947, als die Beamten-Entnazifizierungswelle schon ihren Höhepunkt überschritten hatte, nahm er seinen Richterplatz wieder ein. Er kam nach Weißenburg, einer Kreisstadt an der fränkisch-bayerischen Sprachgrenze, und wurde Amtsrichter.

Von dem Amtsrichter Schmid-Lindner weiß man sich dort zu erzählen, daß er ein strenger Richter war. Aber eines fiel auf: Er war bei Sittlichkeitsvergehen milde. Einen Bäckergesellen, der wegen Unzucht angeklagt war, ließ Schmid-Lindner – nach Meinung der Weißenburger unverständlicherweise – wieder frei. Einen Nürnberger Photographen, der für eine Reportage die Frau eines in einen Kriminalfall Verwickelten gegen deren Willen photographiert hatte, verurteilte er dagegen zu drei Wochen Gefängnis.

Am 29. März 1953 stand der Amtsgerichtsrat Schmid-Lindner schließlich vor

der Zweiten Großen Strafkammer in Nürnberg unter der Anklage, sich fortgesetzter Vergehen nach Paragraph 175 des Strafgesetzbuches schuldig gemacht zu haben. Die Anklage ging im wesentlichen auf den Vorfall zurück, der sich während des Kirchweihfestes abgespielt und im Stalle zu Bieswang geendet hatte.

Bei der Verhandlung in Nürnberg gab Schmid-Lindner zu, sich “homo-erotisch” benommen zu haben. Bei der Vernehmung von etwa zwanzig Zeugen jedoch ergab sich, daß es nur bei Versuchen geblieben war. Den Ursprung seiner Abartigkeit verlegte Schmid-Lindner in die Kriegsgefangenschaft. Seitdem, so gab er an, sei er sich selbst ein Rätsel geworden. Seiner Meinung nach handele es sich um ein seltsames Zärtlichkeitsdelirium, in das er immer besonders nach Alkoholgenuß komme.

Drei Psychiater marschierten auf, um den Fall Schmid-Lindner zu klären. Einer kam aus Erlangen, einer aus Nürnberg und der dritte aus München. Dieser dritte war es, auf den sich der inzwischen verstorbene Landgerichtsdirektor Möhring in seinem Urteil stützte. Es war der Psychiater Professor Dr. Max Mikorey von der Universitäts-Nervenklinik in München.

Der Sachverständige Mikorey legte dem nicht sachverständigen Gericht eine Röntgenaufnahme vom Gehirn des angeklagten Amtsgerichtsrats vor, auf der zu erkennen sei, daß Schmid-Lindner eine entzündliche Stelle im Zwischenhirn habe, durch die – nach den Ausführungen des Professors – Störungen im Sexualzentrum ausgelöst werden. Der Gehirnschaden sei auf eine sogenannte spanische Grippe zurückzuführen, die Schmid-Lindner in seinem 16. Lebensjahr durchgemacht hat.

So billigte denn auch der Sachverständige Mikorey dem Angeklagten den Schutz

des Paragraphen 51 Absatz 2 (verminderte Zurechnungsfähigkeit) zu, bemerkte aber, daß er den Absatz 1 des Paragraphen 51 (volle Zurechnungsunfähigkeit) bei Begehung der fraglichen Handlungen nicht ausschließen könne*).

An eine Wiederholungsgefahr glaube er nicht, meinte Mikorey. Obwohl Staatsanwalt Kühn fünf Monate Gefängnis mit Bewährungsfrist beantragt hatte, sprach das Gericht Schmid-Lindner nach dem Grundsatz “Im Zweifel für den Angeklagten” auf Grund des Gutachtens**) frei. Landgerichtsdirektor Möhring jedoch bemerkte noch abschließend, im Wiederholungsfalle müsse der Angeklagte mit einer Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt rechnen.

Nun wäre jede öffentliche Polemik um den Fall des bedauernswerten kranken Amtsgerichtsrats Schmid-Lindner völlig verfehlt, wenn mit diesem Verfahren auch seine richterliche Tätigkeit endgültig unmöglich geworden wäre. Aber so ist es nicht.

Das Oberlandesgericht in Nürnberg, in dessen Bezirk das Amtsgericht Weißenburg liegt, hatte gegen ihn auch ein Dienststrafverfahren eingeleitet. Solange das Strafverfahren lief, wurde Schmid-Lindner zunächst einmal suspendiert. Wenige Wochen, nachdem der Freispruch der Zweiten Großen Strafkammer in Nürnberg rechtskräftig geworden war, beschloß auch die Dienststrafkammer des Oberlandesgerichtsbezirks Nürnberg, “in Auslegung des Mikorey-Gutachtens” das Verfahren einzustellen.

Begründung: Da Schmid-Lindner von der Anklage des Vergehens gegen den Paragraphen 175 StGB von einem ordentlichen Gericht freigesprochen wurde und das Gutachten des Münchner Professors Mikorey dem Amtsrichter Schmid-Lindner auf der strafrechtlichen Seite den Schutz des Paragraphen 51 Absatz 2 für den Augenblick der Tat zuerkenne, sei damit deutlich ausgedrückt, daß der Weißenburger Amtsrichter in seiner Tätigkeit als Richter sonst voll verantwortlich handeln könne. Ob er, Schmid-Lindner, sich nicht trotzdem anderswohin versetzen lassen wolle, fragte man ihn. Nein, meinte der Amtsrichter, warum?

In Weißenburg traten in jenen Tagen der Oberbürgermeister Thumshirn, der Leiter des dortigen Amtsgerichtes, Oberamtsrichter Westner, und der SPD-Landtagsabgeordnete Stöhr zu einer Besprechung zusammen, um zu beraten, wie man verhindern könne, daß der anfällige Amtsrichter Schmid-Lindner wieder in die Stadt zurückkomme.

Das Gespräch brachte als Ergebnis, MdL Stöhr möge zu dem im Münchner Justizministerium sitzenden Staatssekretär Koch vordringen und energisch Schmid-Lindners Versetzung verlangen. Der Staatssekretär Koch bemühte sich denn auch in diesem Sinne.

Inzwischen aber war das eingetreten, was den Gang der Dinge weiter verzögern sollte: Die Generalstaatsanwaltschaft des Nürnberger Oberlandesgerichts hatte gegen den Beschluß der Dienststrafkammer, das Verfahren einzustellen, Beschwerde beim Dienststrafsenat am Obersten Landesgericht in München eingelegt. Das war im September.

Seither brütet Oberst-Landesgerichtspräsident Konrad als Vorsitzender dieses Dienststrafsenates, was er tun solle. Für den Dienststrafsenat gibt es zwei Möglichkeiten:

* entweder die Beschwerde des Generalstaatsanwalts in Nürnberg zu verwerfen, dann bleibt es bei dem Einstellungsbeschluß der Nürnberger Dienststrafkammer, und der Amtsrichter Schmid-Lindner wird wieder in Amt und Würden aufgenommen;

* oder der Dienststrafsenat verwirft die Beschwerde nicht, dann verhandelt dieselbe Dienststrafkammer erneut über den Fall Schmid-Lindner, die in erster Instanz das Verfahren schon einmal eingestellt hatte.

Vorläufig holte Oberst-Landesgerichtspräsident Konrad ein neues Obergutachten bei Professor Mikorey ein, um zu klären, ob der Paragraph 51 Absatz 2 nicht auch auf die 18jährige Tätigkeit des Amtsrichters Schmid-Lindner in seinem Amt ausgedehnt werden müsse. Konrad: “Der war ja denn wohl doch ein haltloser Mensch.” Das Gutachten soll klären, ob Schmid-Lindner nicht in der Lage war, “der Versuchung zu widerstehen”. Konrad: “Er hätte ja nur nicht ins Wirtshaus zu gehen brauchen.”

*) Paragraph 51 (Zurechnungsunfähigkeit): (1) Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche unfähig ist, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. (2) War die Fähigkeit, das Unerlaubte der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe erheblich vermindert, so kann die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden.**) Mikorey hatte auch im Völlenkle-Prozeß als Gutachter gewirkt. In jenem Verfahren war eine Frau angeklagt, die Freundin ihres Ehemannes erschlagen und die Leiche anschließend versteckt zu haben. Mikorey hatte auch hier für Anwendung des Paragraphen 51 plädiert. Die Angeklagte war daraufhin freigesprochen worden.

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