Vom Vorteil, ein Justizopfer zu sein von Oliver García, delegibus-Blog, 20.09.2015
Was ist eigentlich ein Justizopfer? Und: Gibt es so etwas überhaupt? Der „immerwährende“ Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bayerischen Landtag, Franz Schindler (SPD), ist einmal mit der Behauptung aufgefallen, es gäbe gar keine Justizopfer.
…Zwei bekannte Fälle von Justizopfern, deren Leben aufgrund von unberechtigter Haft in Trümmer gefallen ist, die die Gestalt von Schadensposten in einem streitig geführten Entschädigungsverfahren angenommen haben, sind die von Harry Wörz (LG Karlsruhe, 10 O 370/14) und Veysel Kurt (LG Potsdam, 4 O 213/15). Wörz war wegen versuchten Totschlags an seiner Frau zu elf Jahren Gefängnis verurteilt worden, Kurt wegen Totschlags an einer Liebhaberin zu neun Jahren. Beide sind später von den Vorwürfen freigesprochen worden, wobei offenkundig wurde, daß in beiden Fällen die Verurteilung das Ergebnis einseitiger Ermittlungen und einer verfrühten Festlegung auf einen Handlungsablauf durch Staatsanwaltschaft und Gericht war. Im Fall Kurt stellte sich in der zweiten Hauptverhandlung vor einem neuen Gericht heraus, daß die zwar nicht sicher feststellbare, aber doch wahrscheinlichste Ursache für den Tod der Liebhaberin die schicksalhaft aufgetretene Luftembolie war, von der das erste Gericht partout nichts hatte hören wollen und zu der es jeden Beweisantrag verärgert zurückgewiesen hatte.
Als rechnerische Bilanz seiner Rolle als Angeklagter erhielt Kurt im Mai dieses Jahres einen Bescheid der brandenburgischen Generalstaatsanwaltschaft, in der die Entschädigung für alle in Verbindung mit seiner über 17-monatigen Untersuchungshaft entstandenen Schäden auf 25.389,68 Euro festgelegt wurde, davon 13.375 Euro für den immateriellen Schaden (die 25 Euro pro Tag). Als materiellen Schaden berechnete der Sachbearbeiter 13.421,31 Euro für entgangenen Gewinn, allerdings abzüglich 2.765,49 Euro wegen ersparter Aufwendungen für Verpflegung, sowie 1.358,68 Euro für die Rechtsanwaltsgebühren im Entschädigungsverfahren.
Der Fall bietet eine Gelegenheit, sich einen Irrtum genauer anzusehen, dem die Staatsanwaltschaften bei der Anwendung des Schadenrechts – natürlich zu Lasten der Freigesprochenen – routiniert innerhalb der ohnehin engen gesetzlichen Grenzen für eine angemessene Entschädigung unterliegen. Er betrifft den Posten „ersparte Aufwendungen für Verpflegung“, der für die Antragsteller insoweit besonders ärgerlich ist, weil er – aufgrund des identischen Tagesfaktors – wie eine Kürzung des ohnehin kargen Tagessatzes von 25 Euro „Schmerzensgeld“ erscheint (obwohl insoweit eine Verrechnung erklärtermaßen gerade nicht stattfindet, dazu gleich). Die These, die im Folgenden ausgeführt werden soll, lautet: Ein solcher Abzug steht jedenfalls in den meisten Fällen mit dem geltenden Recht nicht in Einklang. Trotzdem scheint diese bisherige Praxis noch nicht in Frage gestellt worden zu sein, denn Rechtsprechung zu ihr ist nicht bekannt geworden. Im Fall Kurt beläuft sich dieser Abzug auf 2.765,49 Euro, im Fall Wörz sollen es gar 14.000 Euro sein.
Als Grundlage für diesen Abzug wird die Rechtsfigur des „Vorteilsausgleichs“ herangezogen. Daß sie einschlägig ist, wird nicht vom Staatsanwalt in jedem Verfahren neu entschieden, sondern von ihm den ministeriellen Ausführungsbestimmungen zum StrEG entnommen. Hier muß man wissen, daß diese Ausführungsbestimmungen bereits ein Rückzugsgefecht der Justizverwaltungen abbilden. …