Unser Kollege ist seit drei Jahren Schöffe am Amtsgericht – und muss als Laie über andere Menschen urteilen. Er hat einiges über das deutsche Rechtssystem zu erzählen, Heft 17/2012

Schuld und Bühne, Absprachen im Hinterzimmer, weinende Angeklagte, Gewissensbisse nach der Verhandlung: Unser Kollege ist seit drei Jahren Schöffe am Amtsgericht – und muss als Laie über andere Menschen urteilen. Er hat einiges über das deutsche Rechtssystem zu erzählen. Süddeutsche Zeitung Magazin, Heft 17/2012

04.05.2012 Hannelore Wiese (1)
Ein Verfahren, das neu aufgerollt wird, wenn der Richter überstimmt wird? Wer soll denn das glauben. Ich bin ebenfalls seit drei einhalb Jahren Schöffin

Wenig Zeit und wenig Ahnung
Meine erste Verhandlung: Es geht um gefälschte Arbeitsverträge und offene Rechnungen, Streitwert mehr als 100 000 Euro, das Verfahren füllte bereits mehrere Aktenordner. Als Schöffe bekomme ich vorab keine Akteneinsicht, alle Schriftstücke zu lesen würde zwei Tage dauern, der Richter fasst den Fall in fünf Minuten zusammen. Kurz darauf sitze ich auf der Richterbank und verstehe die Hälfte nicht. Schöffen dürfen Fragen stellen im Prozess, aber ich hätte nicht nur eine Frage, sondern 20. Ich habe es bei einer späteren Verhandlung erlebt, dass eine Richterin bei meiner zweiten Nachfrage genervt zischte: »Das haben wir doch schon längst besprochen!« Danach war ich sauer – und still. Für sie war ich lediglich Statist. Gute Richter, und sie sind die Mehrzahl, nehmen sich Zeit für ihre Schöffen. Trotzdem: In den meisten Verhandlungen habe ich am Ende noch offene Fragen, für die ich gern mehr Zeugen vorladen würde, den Tatort besichtigen, im Gesetzbuch nachlesen. Mir ist aber klar, dass die Zeit drängt und dass sich beim Richter die Fälle stapeln. Mein erster Prozess wird vertagt, weil das entscheidende Beweisstück bei der Akteneinlagerung verloren gegangen ist, wie der Richter verärgert feststellt.

Gute und schlechte Schöffen
Mitte März 2012 musste in München ein Mordprozess neu angesetzt werden, weil ein Schöffe nicht genug Deutsch verstand. Im Archiv der Süddeutschen Zeitung finde ich Artikel über Schöffen, die betrunken zur Verhandlung kamen, T-Shirts mit »Pitbull Germany«-Schriftzug trugen oder während des Prozesses einschliefen. »80 Prozent der Schöffen sagen vor Gericht nie ein Wort und sitzen einfach nur stumm neben dem Richter«, sagt Hans Holzhaider, langjähriger Gerichtsreporter dieser Zeitung.

Ob ich mich überhaupt zum Schöffen eigne, wurde niemals geprüft. Mein Vater war Jurist bei einer Versicherung, mein Bruder ist Anwalt, ich fand ein Jurastudium zu trocken. Vor meiner Schöffenzeit stand ich nur einmal vor Gericht, diese Erfahrung hat mir gereicht: Ich hatte einen Hausmeister angezeigt, der seinen Schäferhund auf mich gehetzt hatte, weil ich auf einem leeren Obi-Parkplatz sonntags Skateboard fuhr. Der erste Richter war kurz vor der Rente und sprach den ebenfalls grauhaarigen Hausmeister – der Adolf hieß und betonte, dass sein Hund reinrassig sei – frei. Mit der Begründung, mein Skateboard sei eine Gefahr für andere gewesen. Mein Anwalt legte Einspruch ein, die zweite Verhandlung ging dann zu meinen Gunsten aus, der neue Richter, Ende 40, verurteilte den Hausmeister zu etwa 300 Mark Strafe. Ich war 19 und beschloss für mich: Recht ist, was der Richter richtig findet. Mit 32 wurde ich Schöffe.

 

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