Der Preis der Freiheit, TheEuropean Kolumne, 07.05.2013
Wer unschuldig ins Gefängnis kommt und die Behörden davon überzeugen kann, erhält 25 Euro Entschädigung für jeden Tag hinter Gittern. Ein Witz, über den Sie besser nicht lachen – denn es kann jeden treffen.
Haben Sie schon mal unschuldig in Haft gesessen? Das kann Untersuchungshaft oder auch Strafhaft gewesen sein, Hauptsache unschuldig. Nein? Gibt es nicht? Kann Ihnen doch gar nicht passieren? Doch nicht in Deutschland.
Leider doch. Es ist passiert, es wird wieder passieren, es kann jedem passieren – auch Ihnen. Eine am 2.5.2013 im WDR-Fernsehen ausgestrahlte Dokumentation, „Unschuldig in Haft“, hat das auch einem breiteren Publikum verdeutlicht.
Manche Unschuldige haben immerhin das Glück, dass es in der Hauptverhandlung oder in der Berufung zu einem Freispruch kommt oder dass sie schon während des Ermittlungsverfahrens wieder aus der U-Haft entlassen werden, weil der dringende Tatverdacht sich in Luft aufgelöste hat. Dann haben sie vielleicht nur ein paar Tage, Wochen oder Monate gesessen. Bei manchen kommt es auch erst nach Jahren durch ein Wiederaufnahmeverfahren zur Haftentlassung. Und manche – niemand kann sagen wie viele, sitzen bis ans Ende ihrer Tage unschuldig ein, ohne dass es jemals herauskommt.
„Freiheit“ – für Bundespräsident Joachim Gauck „der zentrale Wert unserer Gesellschaft“, für Müller-Westernhagen „das Einzige, was zählt“ und in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz wird die Freiheit der Person als „unverletzlich“ bezeichnet. Die Freiheit hat also in unserem Staat einen richtig hohen Rang, sollte man da meinen. Es mag Ihnen deshalb völlig absurd vorkommen, wenn ich Sie frage, welchen Wert die persönliche Freiheit in Euro, also welchen Preis sie hat. Aber ja, das ist ernst gemeint – alles hat seinen Preis.
Und diese Frage ist besonders wichtig für die, die durch eine Fehlentscheidung ihrer Freiheit beraubt wurden. Da muss es doch eine fette Entschädigung geben, wenn man mal ein paar Jahr zu Unrecht im Knast gesessen hat, nicht wahr? Pustekuchen. Der Gesetzgeber hat in seiner unerklärlichen Art bestimmt, was eine Stunde Freiheit wert ist, nämlich exakt 1,04 Euro oder pro Tag 25 Euro. Hätten Sie das gedacht?
Überlegen Sie mal, was Sie für 1,04 Euro pro Stunde sonst so bekommen, viel kann’s nicht sein. Selbst eine Stunde Parken kostet deutlich mehr. Selbst der abartigste Ausbeuter zahlt einen höheren Stundenlohn. Was würden Sie mir erzählen, wenn ich sie mal einfach so für drei Tage im Heizungskeller einsperre, wieder rauslasse und ihnen als Gegenwert für das Erlebnis 75 Euro in die Hand drücken würde? Danke, alles wieder gut? Wohl kaum.
Seit dem 5.8.2009 gibt es nach Paragraf 7 des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (StrEG) sage und schreibe 25 Euro für jeden Tag, den jemand zu Unrecht in Haft gesessen hat. Davor gab’s nur elf Euro, also nur knapp 46 Cent die Stunde.
Da es in Absatz 1 heißt: „Gegenstand der Entschädigung ist der durch die Strafverfolgungsmaßnahme verursachte Vermögensschaden, im Falle der Freiheitsentziehung auf Grund gerichtlicher Entscheidung auch der Schaden, der nicht Vermögensschaden ist“, handelt es sich bei diesen 25 Euro nicht etwa um Verdienstausfall oder entgangenen Gewinn, Schadensersatz für tatsächlich entstandene Vermögensschäden, die es zusätzlich gibt, sondern um die Entschädigung für die verlorene Freiheit selbst.
Um es noch einmal deutlich zu machen, das betrifft nicht etwa zu Recht verurteilte Kriminelle, sondern unter Umständen Sie, einen unschuldigen Bürger. Obwohl das rechtsstaatliche Strafverfahren mit einigen gesetzlichen Sicherungsversuchen (Berufung, Revision und Verfassungsbeschwerde, Unschuldsvermutung usw.) gegen falsche Verurteilungen ausgestattet ist, lässt es sich leider nicht vermeiden, dass ab und an auch Unschuldige hinter Gittern landen. Wo Menschen entscheiden, machen sie Fehler. Das ist in jedem Beruf so. Während des Ermittlungsverfahrens in Form von U-Haft kommen Menschen häufiger unschuldig in Haft, weil hier schon ein dringender Tatverdacht reicht, um sie anzuordnen, nach einem Strafurteil zwar seltener, aber eben auch viel zu oft. Das und die vielfältigen Ursachen von Fehlurteilen war das Thema der letzten Kolumne.
Man muss sich einmal vor Augen führen, was es bedeutet, als Unschuldiger wegen einer Straftat verurteilt zu werden. Kafka lässt grüßen. Im schlimmsten Fall wenden sich auch noch Freunde und Familie nach und nach ab, die Zweifel zerfressen das Vertrauen, zerstören Karriere, alles. Was passiert mit der Familie, die gleich mit bestraft wird?
Der unschuldige Gefangene ist nach außen und innen isoliert. Hafterleichterungen wie Ausgang oder Hafturlaub werden regelmäßig mit der völlig zutreffenden Begründung verweigert, der Gefangene sei ja nicht einmal bereit, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen. Ja, das habe ich schon ein paar Mal als Verteidiger erlebt. Das ist zum Verrücktwerden. Mit welcher Tat sollte sich denn ein Unschuldiger auseinandersetzen? Unschuldige gelten gemeinhin als therapieunwillig, störrisch und nicht resozialisierbar. Ihnen wird Realitätsverlust vorgeworfen. Gerade heute las ich wieder eine Beurteilung, wonach der Gefangene nur von seiner baldigen Entlassung rede und versuche, Mitgefangene von seiner Unschuld zu überzeugen. Ja, was denn sonst?
Ich habe in den vergangenen 25 Jahren vier Fälle erlebt, bei denen ich absolut davon überzeugt war und es immer noch bin, dass die Verurteilten unschuldig waren. Das bereitet dann auch dem abgeklärten Strafverteidiger schlaflose Nächte. In allen Fällen handelte es sich um Sexualstraftaten, in allen Fällen um Indizienprozesse und in allen Fällen waren die Verurteilungen in der Revision nicht zu knacken, weil es den Gerichten gelungen war, „wasserdichte“ Urteilsbegründungen zu schreiben, die vom Revisionsgericht mit dem üblichen Dreizeiler bestätigt wurden. Wenn ich eine ähnliche Quote bei den Kollegen unterstelle, kommen so eine ganze Reihe unschuldig verurteilter Menschen zusammen.
Und die wenigen, deren Unschuld manchmal erst Jahre später festgestellt wird, werden dann vom Staat ein zweites Mal kräftig verarscht. Dass ein Richter oder ein Staatsanwalt sich persönlich bei einem solchen Justizopfer entschuldigt, habe ich noch nie erlebt oder von anderen gehört.
25 Euro Entschädigung für jeden Tag erlittene Haft sind schon kein Witz mehr, sondern eine absolute Frechheit, eine totale Verhöhnung der Opfer staatlichen Unrechts. Wer sich das ausgedacht hat, sollte mal ein paar Monate sitzen.
Von der Mehrzahl der anderen Inhaftierten unterscheidet sich der Unschuldige in seiner besonderen Haftempfindlichkeit. Für einen Berufsverbrecher ist ein Haftaufenthalt sozusagen Teil des Berufsrisikos, für einen zu Recht verurteilten Täter ist sie psychologisch jedenfalls akzeptabel, weil Reaktion auf eine Straftat.
Für einen Unschuldigen ist der Knast die Hölle. Es gibt ja keinen Grund für den Entzug der Freiheit, niemand glaubt ihm seine Unschuld und er kann psychisch an der staatlich angeordneten Freiheitsberaubung zerbrechen. Jede abgewiesene Haftbeschwerde ist ein niederschmettterndes Ereignis. Es wäre interessant, die in Haftanstalten verübten Suizide einmal daraufhin zu untersuchen, ob die Gefangenen vorher oder auch erst in ihren Abschiedsbriefen ihre Unschuld beteuert hatten.
Der unschuldig Verurteilte verliert vollkommen zu Recht sein persönliches Vertrauen in den Rechtsstaat. Der Rechtsstaat, dessen Aufgabe es ist, ihn vor Ungerechtigkeit zu schützen, seine persönliche Freiheit zu bewahren, dieser Rechtsstaat hat ihm das Wertvollste genommen, das ein Mensch haben kann, seine Freiheit und alles, was damit zusammenhängt.
Und wenn sich die Fehlentscheidung dann als solche herausstellt, bekommt der Unschuldige den Wert dieser Freiheit mit 25 Euro pro Tag vergütet? Da kommt man dann doch erheblich ins Grübeln. Geld und Freiheit sind offenbar die höchsten Werte, die der Staat sich neben unveräußerlichen Werten wie Menschenwürde und Gesundheit so vorstellen kann.
Deshalb wird der Entzug von Geld und Freiheit im Erwachsenenstrafrecht auch als Strafe eingesetzt. Das tut weh und das soll dem zu Recht Verurteilten auch wehtun. Die Geldstrafe ist dabei auf eine Tagessatzzahl von maximal 360 begrenzt. Der einzelne Tagessatz liegt zwischen mindestens 5 und höchstens 30.000 Euro. Die höchste Geldstrafe – entsprechend etwa einem Jahr Freiheitsstrafe – beträgt also 10,8 Millionen Euro. Die Entschädigung für 365 Tage Freiheitsberaubung durch die Justiz ist mit 9.125 Euro da doch recht überschaubar. Wie der Gesetzgeber auch nur auf den Gedanken kommen konnte, mit einer derart lächerlichen Entschädigung das erlittene Unrecht auch nur ansatzweise wiedergutmachen zu können, ist nicht nachvollziehbar.
Auch wenn man das Leid des Unschuldigen vermutlich mit keiner Geldsumme wirklich ausgleichen kann, genauso wie man mit einem Schmerzensgeld niemandem den Verlust eines Beines oder der Augen ersetzen kann, kann es wohl nicht mit dem alles überstrahlenden Verfassungsgebot des Schutzes der Menschenwürde in Einklang stehen, wenn ein Justizopfer auf diese Weise hinterher auch noch verhöhnt wird.
600 Euro steuerfrei – das wäre angemessen
Mein Vorschlag einer halbwegs angemessenen Entschädigung: man könnte sich am Ehrensold des Bundespräsidenten orientieren, also 217.000 Euro pro Jahr oder rund 594 Euro pro Tag. Und da der unschuldig Verurteilte weder ein Büro noch einen Dienstwagen und Personal benötigt, könnte man den Betrag auf 600 Euro täglich aufstocken. Steuerfrei schlage ich mal vor.
Die Orientierung am Ehrensold halte ich deshalb für gerechtfertigt, weil der unschuldig Verurteilte dem Staat unfreiwillig ein sogenanntes Sonderopfer erbracht hat. Er ist, um es einmal in christlicher Diktion auszudrücken, wie der „Geringste“ behandelt worden. Da hat es doch Sinn, ihn bei der Wiedergutmachung dieses schrecklichen Unrechts wenigstens finanziell so zu behandeln, als sei er der höchste Repräsentant des Staatswesens, und das ist nun mal der Bundespräsident.
Außerdem muss endlich eine „Resozialisierung“ für unschuldig Verurteilte geschaffen werden. Es muss alles getan werden, um ihre gesellschaftliche Reputation wieder herzustellen, ihnen eine angemessene Wohnung, ihren alten Arbeitsplatz und was auch sonst ihnen alles genommen wurde, zurückzugeben. Das ist bisher im System nicht vorgesehen. Das gibt es einfach nicht. Bewährungshelfer für zu Recht Verurteilte gibt es, und das ist auch gut so, Wiedereingliederungshelfer für Unschuldige seltsamerweise nicht. Vielleicht könnte man auch noch daran denken, dass die Presse, die vorher groß über die Inhaftierung berichtet hat, verpflichtet würde, im gleichen Umfang über die Fehlentscheidung zu berichten. Dass der Inhaftierte doch kein Monster, Feuerteufel, Kinderschänder oder was sie sich vorher so an Kosenamen ausgedacht hat, war.
Und ja – das würde Geld kosten. Richtig! Das muss dann auch noch der Steuerzahler zahlen? Selbstverständlich! Aber der zahlt ja auch unsinnigere Dinge, ohne dass er persönlich was davon hätte. Und in dem Fall hätte er womöglich sogar selbst mal was davon. Trotzdem, Sie meinen, das wäre alles viel zu teuer und geht Sie sowieso nichts an? Hoffen wir’s mal für Sie. Ich würde es nicht beschwören.
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